Die polnische Zauberin hoch auf dem gelben Rad

Kasia Niewiadoma sorgt für magische Momente bei ihrem Sieg bei der Tour de France Femmes. Vor allem der Schlusstag stellt vieles in den Schatten

So sehen Siegerinnen aus: die glückliche Polin Katarzyna Niewiadoma, die Iga Swiatek des Radsports Foto: Peter Dejong/ap

Von Tom Mustroph

Die Siegerpose war eindrucksvoll. Durchgeschüttelt von Glückshormonen hob Kasia Niewiadoma ihr gelb besprühtes – und von der Koblenzer Radfirma Canyon produziertes – Arbeitsgerät am Zielstrich von l’Alpe-d’Huez in die Höhe. Zwar hatte sie selbst nur als Tagesvierte die weiße Linie überquert. Sie tat das aber im gelben Trikot der Führenden. Und mit dem Einsatz ihrer letzten Energiereserven behauptete sie schließlich den winzigen Vorsprung von 4 Sekunden auf Vorjahressiegerin und Tagesbeste Demi Vollering.

Vier Sekunden nach fast 1.000 Kilometern Rennradfahren – so knapp ging es zuvor selbst bei den Männern nie zu, obwohl die mehr als 100 Jahre mehr Zeit für knappste Einläufe hatten. Acht Sekunden hatte Greg Lemond 1989 Vorsprung vor Laurent Fignon am Ende der Tour de France. Die war mehr als dreimal so lang wie die Frauen-Tour jetzt. Aber nach etwa 1.000 Kilometern damals, zum Ende der 6. Etappe, hatte Lemond schon stolze 5 Sekunden Vorsprung auf den Zweitplatzierten Fignon. Auf den damals zwischenzeitlich Dritten Thierry Marie waren es 20 Sekunden. Nie­wiadoma machte es enger. Nicht nur war Vollering um lediglich 4 Sekunden geschlagen. Sechs Sekunden dahinter lauerte schon die ­Drittplatzierte Pauliena Rooijakkers.

Das Trio sorgte auf dem Weg nach l’Alpe-d’Huez für eine sensationelle Abschlussetappe. Schon 55 Kilometer vor dem Ziel attackierte Vollering und setzte sich von Niewiadoma ab. Im Schlepptau hatte sie allerdings Rooijakkers. Und die war zwei Sekunden besser platziert als die große Favoritin Vollering. Letztere distanzierte zwischendurch auch mal ihre niederländische Landsfrau – und sah bereits wie die glückliche Siegerin aus. Rooijakkers biss sich aber wieder in den Zweikampf um den Tagessieg zurück. Und auf den letzten Kehren hoch in den legendären Wintersportort l’Alpe-d’Huez pirschte sich Niewiadoma wieder heran.

„Vier Sekunden – das ist einfach magisch“, sagte die Gesamtsiegerin dann überglücklich. Sie fühlte sich belohnt für eine lange Karriere, die von exzellenten Leistungen, aber eben auch wenigen Siegen und ganz vielen zweiten und dritten Plätzen gekennzeichnet war. „So viele Male habe ich in meiner Laufbahn den Sieg so knapp verpasst, weil immer etwas fehlte. In diesem Jahr war, abgesehen von ein paar Stürzen zu Beginn der Rundfahrt, aber alles perfekt für mich und mein Team“, sagte sie. Die Erleichterung darüber, es endlich geschafft zu haben, schien grenzenlos. „Um große Rennen zu gewinnen, brauchst du einfach alles auf deiner Seite“, meinte sie und lieferte die detaillierte Erklärung gleich mit: „Im Rennen brauchst du gute Beine, aber auch Glück. Und du musst zur rechten Zeit am rechten Platz sein. Früher verlor ich oft, weil irgendetwas davon nicht passte. Aber in dieser Woche hatte ich einfach Glück, ich war am richtigen Platz und auch die Beine waren gut.“

„Um große Rennen zu gewinnen, brauchst du einfach alles auf deiner Seite“

Katarzyna Niewiadoma

Die, die in der Woche der Tour de France Femmes zwar durchgängig die besseren Beine hatte, aber einmal nicht am rechten Platz und dort vom Glück verlassen war, war die große Favoritin Demi Vollering. Sie stürzte in einer engen Kurve auf der 5. Etappe auch deshalb, weil sie etwas zu weit hinten positioniert war. Verwirrt vom Sturz, voller Schmerzen und schmählich allein gelassen von ihrem Team SD Worx, brauchte sie mehr als eine halbe Minute, um wieder aufs Rad zu kommen und die Verfolgungsjagd in Angriff zu nehmen. An diesem Tag fielen die Würfel allesamt ins Feld von Niewiadoma.

Kämpfen musste sie natürlich dennoch. Vollerings mutige Attacke weit vor dem Ziel in l’Alpe-d’Huez brachte die Polin vom deutschen Rennstall Canyon SRAM an den Rand ihrer Kräfte. „Zu diesem Zeitpunkt war es einfach schrecklich. Der Anstieg war hart. Es fühlte sich an, als verlöre ich meine Beine. Erst auf der Abfahrt konnte ich wieder Kräfte sammeln. Und am Ende gab ich alles, was ich hatte. Es war ein Fest der Leiden“, meinte sie. Ein Fest der Leiden, das sie glücklich machte und das auch die Siegesserie der Niederländerinnen bei der Tour de France Femmes unterbrach. Die konnten sich immerhin mit fünf der acht Tagessiege, Punktetrikot, Gewinn der Nachwuchswertung und zwei Plätzen auf dem Siegerpodium trösten. Es zeichnet sich dennoch eine neue Vielfalt ab.