Macht und Spiele

Fairness, Teamgeist und Weitblick haben sich bei den Olympischen Spielen als zielführende Tugenden erwiesen. Die Politik in Paris wäre gut beraten, sich nun daran zu orientieren

Illustration: Katja Gendikova

Von Harriet Wolff

Die Olympischen Spiele hallen noch nach in Frankreich. Entgegen allen düsteren Prognosen ist es ein meist ausgelassenes Sportfest geworden, ein viele Menschen mitnehmendes, ein fast immer perfekt organisiertes, ein strahlendes. Leider wird nur ein Bruchteil der Interessierten die Paralympics verfolgen, die am 28. August starten. Nur wenige hatten vor Beginn an funktionierende Olympische Spiele mitten in und um Paris herum geglaubt. Und Kri­ti­ke­r:in­nen behalten bis heute auch recht: Es sind in den Vorstädten Obdachlose, Geflüchtete und sozial Benachteiligte vertrieben worden, um Platz zu schaffen für olympische Bauten. Sie zu nutzen – dabei geht es auch um Wohnraum – wird viel Geld kosten. Abermillionen von Euro hat der französische Staat dafür privaten Unternehmen gegeben, anstatt selbst sozial agierender Betreiber dieser Bauten zu sein.

Für Präsident Emmanuel Macron und seine von ihm erst im Januar neu eingesetzte Regierung unter Premierminister Gabriel Attal, die mittlerweile nur noch geschäftsführend im Amt ist, waren die Olympischen Spiele eine willkommene Flucht vor den garstigen innenpolitischen Niederungen. Und auch vor dem Defizitverfahren, das die EU-Kommission gegen Frankreich wegen andauernder hoher Neuverschuldung einleitet – letztes Jahr betrug sie 110,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Und nun? Muss Macron erst mal ab kommender Woche eine beispiellose Blockade im seit Juli neu konstituierten Parlament mit seinen 577 Sitzen auflösen. In der Fünften Französischen Republik, die seit 1958 besteht, hat es das so noch nie gegeben: drei relativ gleich große politische Blöcke von links bis extrem rechts – keiner mit einer tragfähigen Mehrheit zum Regieren. Es bräuchte jetzt breite Koali­tions­verhandlungen, es bräuchte gegenseitige Zugeständnisse, nur nicht an den zum Teil rechtsextremen ­Rassemblement National (RN) unter dem jungen Jordan Bardella und der ewigen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen.

Der RN bleibt, auch wenn er dieses Mal knapp „nur“ auf den dritten Platz kam, eine existenzielle Gefahr für die französische Demokratie. Im Gegensatz zur AfD tritt er nach außen meist umgänglicher und professioneller auf, distanziert sich brav von Nazis. Er lässt sie aber weiter, vornehmlich versteckt, in der Partei agieren. Stichwort Kompromisse: Was hierzulande oft ein nerviges Gewese ist, manchmal von Erfolg gekrönt, das ist in der hohen Politik jenseits des Rheins noch nicht wirklich State of the Art. Auch wenn es jetzt allerorts gepriesen wird, nachdem Macron ohne direkte Not und infolge der für seine Partei Renaissance und sein Wahlbündnis Ensemble vorhersehbar enttäuschend ausgegangenen Europawahlen nur qua seiner Machtfülle das Parlament auflöste und rasche Neuwahlen dafür ausrief.

Rund 33 Prozent der Wäh­le­r:in­nen hatten bei der EU-Abstimmung für den ultrarechten RN gestimmt, dessen Großthemen wirtschaftliche Kaufkraft und Abwehr von Migration zogen. Doch statt für die eigentlich noch verbliebenen Jahre bis zu Neuwahlen 2027 von Präsident und Parlament eine praktikable, menschenfreundliche Politik voranzutreiben, hat Macron, der nach zwei Amtszeiten verfassungsbedingt nicht mehr antritt, seine Equipe vor den Kopf gestoßen. Er hat nonchalant und Hals über Kopf die bis dahin relative Mehrheit von Ensemble im Parlament verspielt.

Anstatt Verbündete quer durch andere demokratische Parteien zu suchen und Kompromisse anzugehen, provozierte Macron unverantwortlich die momentane politische Blockadesituation. Nochmals zugegeben: Kompromisse vorbereiten und festzurren, das ist bis jetzt höchst selten in der französischen Politik und vertrackter als hierzulande. Es gibt dafür noch keine Tradition der politischen Mäßigung – und das Verhältniswahlrecht, das diese Art zu regieren und zu verwalten unterstützt, wird zwar auch jetzt wieder vehement in Frankreich gefordert, vorläufig aber praktisch nicht angewandt.

So gewinnt letztlich fast immer der oder die mit den meisten Stimmen, während die anderen leer ausgehen. Lange Jahre war das Mehrheitswahlrecht in Frankreich ein Mittel, die Ultrarechten aus dem Parlament herauszuhalten. Aber auch wenn Anfang Juli die Brandmauer gegen rechts noch einmal weitgehend hielt – sie ist wegen der letztlich gesamtgesellschaftlich prekären Stimmung und teilweise auch wirklich prekären Lage auf Dauer keinesfalls sicher. Macron hat eine politische Noch-Gefolgschaft, von der nicht wenige nach seinen aktuellen Eskapaden jetzt auf Distanz zu ihm gehen oder schon gegangen sind. So etwa Noch-Premierminister Attal, den Macron mit seiner Hasardeur-Entscheidung überrumpelte. Sie alle hätten es ohne Parlamentsneuwahlen leichter gehabt, als dann nicht wie jetzt abgewatschtes Bündnis endlich konstruktiv die diffusen, angstbesetzten Gefühle und Haltungen vieler Wäh­le­r:in­nen zu „denen da oben“ anzugehen.

Hätte, hätte. Frankreich ist qua Verfassung ein hyperpräsidentiell regiertes Land. Der Präsident bestimmt den Premierminister, er sitzt dem Ministerrat vor. Alles läuft auf ihn und seine Person zu, das Land ist abhängig von der Führungsstärke, aber auch von den Launen eines einzelnen Menschen. Und Macron ist das personifizierte Gegenteil von Demut, er hat keine Geduld, er ist kein Stratege, er ist ein Taktiker. Wohl wollte er mit den von ihm verfügten Neuwahlen Dynamik hineintragen in die zähe Gestaltungs- und Regierungsarbeit seines Bündnisses Ensemble. Er hat sich verzockt, er, der 2017 als Präsidentschaftskandidat erstmals antrat für ein neues Frankreich en marche, in Bewegung.

Foto: Isabel Lott

Harriet Wolff

ist seit 2013 bei der taz-Wahrheit, zeitweise auch Themenchefin in der Regie und Redak­tionsrätin. Als Autorin hat sie den Schwerpunkt Frankreich.

Das noch amtierende Regierungsbündnis Ensemble ist ein loser Parteienzusammenschluss, der mit dem deutschen politischen Koalitionsgedanken nichts gemein hat und – ungewöhnlich für Frankreich – nur eine relative, keine absolute Mehrheit im Parlament hatte. Die liegt bei 289 von 577 Sitzen. Macron hat die Dynamik nun bekommen, aber nicht in seinem Sinn. Das hätte ihm stimmungstechnisch zuvor eigentlich schon klar sein müssen. Ensemble hat 84 Sitze verloren und ist nur noch zweitplatziert mit 163 Sitzen nach dem überraschenden Wahlsieg des linken Bündnisses Nouveau Front populaire mit jetzt 180 Sitzen. Der zuvor als Sieger gehandelte RN kommt insgesamt auf 142 Mandate.

Wie reagiert der „maître des horloges“, der Meister des Timings, wie Macron heute viele nur noch ironisch nennen, auf diese aktuelle politische Fast-Pattsituation? Er behauptet einfach dreist, keine Partei habe gewonnen, was einerseits stimmt, weil jede Partei oder auch kleinere Bündnisse nun rasch mit einem erfolgreichen Misstrauensvotum abgewählt werden könnten. Und andererseits hat eben doch die zuvor mühsam vereinte Linke gewonnen, bestehend aus der sich endlich langsam von Jean-Luc Mélenchon emanzipierenden LFI, den Grünen, Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten. Auch wenn Frankreich im zweiten Wahlgang am 7. Juli nicht unbedingt aus Überzeugung, sondern teils nur aus Abwehr gegen extrem rechts die Linke gewählt hat – sie hat es numerisch erfolgreich geschafft, sich an die Parlamentsspitze zu setzen.

Um das alles anzuerkennen, müsste Macron sich von seiner Arroganz und seiner von Anfang an vertikalen Machtausübung verabschieden, müsste ein fairer Schiedsrichter für alle Fran­zö­s:in­nen werden. Das wird nicht passieren. Macron ist kräftig demontiert, doch qua seiner verfassungsmäßigen Machtfülle wird er aller Wahrscheinlichkeit nach das Bündnis der linken Wahl­sie­ge­r:in­nen links liegen lassen; wird sich wohl noch nicht mal auf ein Gespräch mit der von ihnen nominierten parteilosen Kandidatin Lucie Castets, einer Finanzdirektorin der Pariser Stadtverwaltung, treffen. Was für eine Hybris.

Macron wird versuchen, klassisch sozial­demokratische und konservative Kräfte jenseits des ultrarechten RN auf seine Seite zu ziehen

Macron wird jetzt versuchen, klassisch so­zial­demokratische und konservative Kräfte jenseits des ultrarechten RN auf seine Seite zu ziehen – und aus diesen Kreisen den oder die Premierminister:in benennen.

 Nicht zu vergessen: Das Land befindet sich bereits im Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 2027. Einige Aspiranten auf das höchste Amt, wie etwa der frühere Premierminister Édouard Philippe, der Macron im Amt zu beliebt wurde, weshalb er ihn schasste, haben noch Rechnungen mit ihm offen. Und immer schwingt im politischen Umgang der So­zia­lis­t:in­nen und der Konservativen mit Macron heftig mit, dass er diese Parteien seit 2016 brutal gespalten hat durch seine „Weder links noch rechts“-Politik, die aber stetig rechter geworden ist.

Quoi faire, was tun nun? Vor allem zwei Namen kursieren im politischen, nicht so wie um diese Zeit üblicherweise sommerschläfrigen Paris als mögliche kommende Premierminister. Keiner von ihnen löst irgendwo Begeisterung aus. Zwei altgediente Politiker sind es, um die 60: Xavier Bertrand, parteilos und dem konservativen Spektrum zugerechnet. Der aktuelle Präsident der nordfranzösischen Region Hauts-de-France bezeichnet sich selbst als „sozialen Gaullisten“. Und dann ist da noch Bernard Cazeneuve, früher bei den Sozialisten, heute führt er die Kleinpartei La Convention. Ob einer der beiden oder eben die ambitionierte Kandidatin der Linken, Castets, die politische Blockade Frankreichs auflösen kann? Mit olympischen Tugenden, wie sie derzeit rauf und runter in Medien und Politik gepredigt werden, mit Fairness, Teamgeist, gutem Organisationstalent und Weitblick?

Man möchte es Frankreich wünschen. Denn Marine Le Pen und ihre menschenfeindliche Truppe laufen sich gerade genüsslich und verlogen warm.