Momente statt Meinungen

In der Weimarer Republik fotografiert der Buchhalter Fide Struck die Menschen um ihn herum. Jahrzehnte später findet einer seiner Söhne die Bilder, die sich allen Schubladen entziehen

Hamburg, frühe 1930er-Jahre: Auf dem Markt vor den Deichtorhallen ist der Teufel los

Von Friederike Gräff

Ein Mann der Zahlen sei er gewesen, sagt Thomas Struck über seinen Vater Fide. Ein Buchhalter war er, und zugleich ein Mann der Bilder. 3.000 Negative fand Thomas Struck dreißig Jahre nach dem Tod des Vaters in einem Koffer, 2015 war das. Familienbilder, aber auch Fotoreportagen vom Hamburger Fischmarkt, von der Börse, von einer Straßenbahnlinie, die vom eleganten Berlin-Grunewald bis ins arme Lichtenberg fuhr.

Unverstellter Blick: Schiffsbug ohne Außenhaut auf einer Hamburger Werft

Fide Struck hat sich hochgearbeitet, aus dem Hamburger Gängeviertel, einer Arbeitersiedlung, in der knapp zehn Jahre vor seiner Geburt 1901 noch die Cholera wütete. Fide, der eigentlich Friedrich heißt – seine Schwester gab ihm einst den kurzen Kosenamen – macht eine Ausbildung als kaufmännischer Angestellter in einem Wäschegeschäft. Danach schließt er sich der reformistischen Jugendbewegung an, beginnt eine Beziehung zu einer Deutsch-Ukrainerin und wird Vater zweier Söhne. Es gibt ein Bild von ihm aus dieser Zeit, er steht in der typischen Reformkluft, kurzer Hose, langem Kittel und weißem Kragen an einem Hang und sieht unglaublich jung aus.

Erschöpft? Erleichtert? Ein Hafenarbeiter macht sich frisch

Als die Beziehung scheitert, geht er als alleinerziehender Vater in die Künstler- und Handwerkerkolonie Gildenhall bei Neuruppin. Dort lernt er das Fotografieren und beginnt mit der verheirateten Schwester seines Lehrers, der Kommunistin Else Großmann, eine Beziehung, aus der ein weiterer Sohn hervorgeht. Auf einem Foto aus der Zeit ist Fide Struck am Fenster eines Zugabteils zu sehen, er trägt Hut und Brille und sieht aus, wie das, was er bald sein wird: ein Buchhalter.

Auch er hat viel zu tun. Hoffentlich sind in den Körben keine Eier

Aber was heißt das schon? In den kommenden Jahren, von 1930 bis 1933, wird er die Fotos machen, die auf diesen Seiten zu sehen sind. Wie das einer Marktfrau, die unter ihrem dunklen Kopftuch auch eine trauernde Maria sein könnte, oder das des Hafenarbeiters mit schwer zu deutendem Blick, der sich den Kopf mit einem Tuch trocknet. Arbeiterfotografie, denkt man, und zieht bereits gedanklich die Schublade auf, doch das ist zu schnell. Fide Struck passt auch die gut gelaunten Krawattenmänner vor der Börse ab und den einsamen Krabbenfischer am Meer.

Marienbildnis einer Marktfrau. Im Hintergrund die verschwommene Pracht der Kaufmannshäuser

Es gibt, und das ist das Interessante daran, nichts Eindeutiges, Vorhersehbares in seinem Blick. Es sind Momente, die er abbildet, nicht Meinungen. Um so bitterer, dass dies seine Bilder so geeignet machte für Arbeit in Bild und Zeit, eine Fotozeitschrift der Nazis, die damit die linke Arbeiter-Illustrierte-Zeitung plagiierten. Es blieb die einzige bekannte Veröffentlichung von Fide Strucks Fotografien zu seinen Lebzeiten. 1945, zwei Jahre nach der Geburt seines jüngsten Sohnes Thomas, verkauft er seine Fotoausrüstung.

Ein Foto, das man förmlich riechen kann: aufgereihte Bücklinge in einer Fischräucherei Fotos: Fide Struck/Slg Thomas Struck/bpk

Warum? Möglicherweise, sagt Thomas Struck, hatte Fide den Tod seines Sohnes Hartmut kurz vor Kriegsende nicht verwunden. Aber das bleibt nur Vermutung, wie so einiges bei diesem schwer zu fassenden fotografierenden Buchhalter.

Die Ausstellung „Schippermütz und feiner Zwirn“ mit Strucks Fotografien ist noch bis zum 8. September im Museum Kunst der Westküste auf Föhr zu sehen. Der dazugehörige Bildband „Der richtige Moment“ ist im Michael Imhof Verlag erschienen.