Prekär beschäftigte Klone

LANGFILM-DEBÜT In „Die Ausbildung“ blickt Dirk Lütter erstaunlich abgeklärt in die neoliberalen Abgründe der heutigen Arbeits- und Bürowelt

Erste Lektion. In der Arbeitswelt ist es wie in der Kirche. Um aufgenommen zu werden, muss man zuerst ein Bekenntnis ablegen. „Ich denke, ich bin teamorientiert und zielstrebig.“ Wer solch ausgelutschte Floskeln von sich geben kann, ohne dass es ihm die Schamesröte ins Gesicht treibt, hat bereits bewiesen, dass er um jeden Preis dabei sein will. Welchen Preis genau der Azubi Jan (Joseph Bundschuh) für seine künftige Anstellung in einem trostlosen Call-Center zu zahlen bereit ist, davon handelt „Die Ausbildung“ von Dirk Lütter.

Der Titel ist genau gewählt. Was Jan beigebracht bekommt, ist nicht, wie man aufgebrachten Kunden am Telefon mit einstudierter Höflichkeit begegnet, sondern dass in der Welt des 360-Grad-Feedbacks, der Clean Desk Policy und des Vornamenzwangs jeder nur sich selbst der Nächste ist. Denn, zweite Lektion: Die Brutalität des neoliberalen Systems wird zwar verschleiert, aber doch nur so oberflächlich, dass man es glatt für Ironie halten könnte. Defizite heißen „Entwicklungsfelder“. Empathie ist ein Punktekatalog. Erpressung ist eine Karriereleiter.

Und Konsum ist Pflichterfüllung. Jan legt sich teure Handys zu und masturbiert lustlos zu Internetpornos. Die überteuerte Designerkleidung, die er kauft, tauscht er wie im Zwang regelmäßig wieder um. Seine Büroromanze mit einer Zeitarbeiterin kommt über Sparflamme nicht hinaus. Als Identifikationsfigur will so einer nicht so recht taugen. Ob Jan versteht, was um ihn herum vorgeht, bleibt bis zur letzten Szene unklar. Wären die neunziger Jahre noch unsere Gegenwart, hätte aus ihm durchaus ein zweiter, aalglatter American Psycho werden können. Der hatte sich in seinem Wall-Street-Yuppie-Job wenigstens eine goldene Nase verdient. So aber bleibt Jan ein Azubi am unteren Ende der Hackordnung in einem Büro, in dem alle dieselben korrekt gescheitelten Frisuren tragen und Jan, Jens oder Jenny heißen: prekär beschäftigte Klone im optimierten Kundendialog , ausgestattet mit Chipkarten, die den Einlass und die Essenspreise kontrollieren. Die flach ausgeleuchteten Räume sind in einem Grau gehalten, das sämtliche Farben auszehrt. Wer hier ein buntes Kleid trägt, darf bald seine Koffer packen. Jans Vorbild und Mephisto ist der Personalchef (Stefan Rudolf), ein jung-dynamischer Karrierist. Für die Azubis wirft er sich in die Pose des lässigen großen Bruders, bis er sich als Big Brother entpuppt, dem kein Trick zu schmutzig ist, um seine Performanceindikatoren wieder auf Aufwärtstrend zu trimmen. Jans Mutter ist Betriebsrätin und hält flammende Reden gegen die Ausbeutung, bis sie gegen die Glastür läuft, vor die sie gesetzt wurde.

„Die Ausbildung“ ist hoch konzentriertes Kino, in dem keine Einstellung zu viel ist. Lütter legt ein erstaunlich abgeklärtes Langfilm-Debüt vor, das entschlackt von unserer Gegenwart, vom Kapitalismus, von den Zwängen und Unmenschlichkeiten der radikalen Ökonomisierung aller Verhältnisse erzählt – ob in Arbeit, Liebe oder Familie. Ästhetisch dem nüchternen Realismus der „Berliner Schule“ nahe, trägt der Film ein Brecht’sches Lehrstück im Herzen. Sogar ein Chor wird aufgeboten. Ohne Sentimentalität wird vorgeführt, wie es in einer verkehrten Welt nur verkehrtes Handeln geben kann. Dass die Arbeits- und Bürowelt im deutschen Kino mal jenseits von Comedy im Stromberg-Stil gezeigt wird, ist die gute Nachricht. Dass sie tatsächlich so aussehen könnte wie in „Die Ausbildung“, die erschreckende. DIETMAR KAMMERER

■ „Die Ausbildung“, Regie: Dirk Lütter. Mit Joseph Bundschuh, Anke Retzlaff u. a. Deutschland 2010/ 2011, 89 Min.