Der fantastische Pier

Der West Pier der englischen Küstenstadt Brighton ist seit Langem eine Ruine. Doch die Geschichten über die berühmte Seebrücke, die echten und die erfundenen, prägen die Stadt bis heute

Aus Brighton Bettina Müller

Still und einsam steht es im Wasser. Ein schwarzes Stahlskelett, ominös und mitleiderregend zugleich. Der Steg des „Piers“, wie Seebrücken in der englischen Sprache heißen, existiert nicht mehr. Die Verbindung zum Festland ist somit gekappt, bis heute konnte der West Pier in der englischen Südküstenstadt Brighton nicht mehr wiederaufgebaut werden und vegetiert als Ruine vor sich hin.

Ist es ein Mahnmal oder ist es Nostalgie? Welche Funktion kann er eigentlich in diesem Zustand noch haben? Es ist bezeichnend, dass man sich in Brighton nie endgültig vom Pier trennen konnte, zu emotional ist das Thema besetzt. Zwei Brände und mehrere Herbststürme mit Sturmfluten zerstörten in den 2000er Jahren das wohl bedeutendste Wahrzeichen der Stadt.

Erbaut wurde der West Pier nach Entwürfen von Eugenius Birch im Jahr 1866. Da hatte sich Brighton schon längst einen gewissen Ruf erworben. Maßgeblich dafür verantwortlich war King George IV., noch als Prinz kaufte er im Jahr 1786 ein Landhaus in Brighton und kam seitdem oft und gern an die Küste. Später ließ George hier auch den opulenten Royal Pavilion bauen. Ein Meisterwerk der Exzentrik, groß wie ein Schloss, das dank eines ausgeprägten Hangs zum fantasievollen Orientalismus wie aus einem Märchen aus 1.001 Nacht entsprungen wirkt. Noch heute können Touristen den Pavilion bestaunen.

Ein feierwütiger König

George hatte es faustdick hinter den Ohren, er brachte nicht nur seinen Hofstaat mit nach Brighton, sondern auch seine wechselnden Geliebten. Das „Dirty Weekend“, das „schmutzige Wochenende“ war geboren, es ging in den englischen Sprachgebrauch ein. Und sie folgten ihm, die Aristokraten, die Reichen und Schönen, verlustierten sich auch nach Georges Tod in Brighton, und natürlich auch am und auf dem West Pier, der, wenn er überfüllt war, die ungezählten Menschen zu einer homogenen Masse werden ließ und die Klassenunterschiede einebnete. Hier waren eigentlich alle gleich, Urlauber und Bewohner, die auf dem Pier erst die Seele baumeln und dann die Blicke schweifen ließen. Der Pier war Verlockung und Verheißung, nahm man ihn in der Ferne wahr, wurde ganz automatisch der Vergnügungsmodus eingeschaltet, der manchmal auch den Verstand aussetzen ließ. Ein Bauwerk so exzentrisch wie manche Engländer.

Ein literarisches Denkmal setzte dem West Pier der Autor Patrick Hamilton in seinem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1951, der die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg behandelt. Damals, als sich Orientierungslosigkeit breitgemacht hatte und das ungute Gefühl, dass nichts mehr so sein würde wie früher; die USA hatten das Königreich als größte Wirtschaftsmacht abgelöst und das britische Kolonialreich zeigte erste Risse, die von seinem baldigen Zusammenbruch kündeten. Der Pier bot den Menschen eine willkommene Kontinuität.

Doch ist „The West Pier“ natürlich kein heiterer Sommerroman. Patrick Hamilton war ein mit reichhaltigem emotionalem Ballast behafteter Autor, der, wie auch schon seine Eltern, alkoholkrank war. Er starb 1962 an Leberzirrhose. Happy Ends gibt es in seinen Büchern so gut wie nie. Schonungslos demontiert Hamilton seine Protagonisten in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs, bis sie fast satirische Züge annahmen.

Mord und Totschlag verdunkelten auch den schönsten Sonnenuntergang am West Pier

Hamilton war 1904 im unweit gelegenen Hassocks zur Welt gekommen. Zwischen seinem Geburtsort und dem Wasser lagen aber noch einige Kilometer. Dann zog seine Familie an die Küste, in den einst eigenständigen Brightoner Stadtteil Hove, der sich vielleicht immer ein wenig für etwas Besseres hielt. Gediegene viktorianische Bauten, kunstfertig restauriert und in hellstem Weiß jungfräulich strahlend, zeugen noch heute vom Reichtum Hoves.

Von London ist Brighton nur 75 Kilometer und eine gute Stunde Bahnfahrt entfernt, und für seine vergnügungssüchtigen Bewohner, George IV. mentale Nachfahren, ist es bis heute eine ewige Partymeile, ein hedonistisches Vergnügen, und immer ist alles ein wenig too much. Bis sich am Sonntag das lange und schmutzige Wochenende so langsam dem Ende zuneigt, der Rausch aber noch nicht so ganz, den manche vielleicht sogar am Strand ausgeschlafen haben. Das ist allerdings eine eher ungemütliche Sache, weil der Strand in dieser Gegend aus Kieselsteinen besteht.

Zum Feiern am Dirty Weekend gehört für viele auch das Ritual des „Getting off“ wie Hamilton es bezeichnete (in etwa: die Anbahnung von Kontakten zwischen den Geschlechtern). Für Hamilton, der zudem große Probleme mit dem weiblichen Geschlecht hatte, war der West Pier ein „Schlachtschiff im Kampf der Geschlechter“. So hatte er ihn sehr treffend im ersten Teil seiner Gorse-Trilogie beschrieben, die nach dem Antihelden der Bücher benannt ist, dem eis- und gefühlskalten Psychopathen Ralph Ernest Gorse. Er war in Sachen Hochstapelei unterwegs, suchte sich stets am West Pier sein nächstes Opfer, umgarnte und manipulierte es, dann nahm er es völlig emotionslos aus, bis vom Ersparten der bedauernswerten Dame nichts mehr übrig blieb. Und den netten jungen Mann, mit dem sie ebenfalls angebändelt hatte, bekam sie natürlich auch nicht, weil Gorse mit anonymen Briefen einen fiesen Keil zwischen die beiden getrieben hatte.

Auf dem Pier flanierten nicht nur die Antihelden dieses Romans, sondern auch in der Realität diejenigen, die sich dem „Getting off“ verschrieben hatten, untermalt vom scheppernden Lärm der Spielautomaten. Wie immer schwieg der Pier und dachte sich sein Teil. In seiner würdevollen Postur schien er immer ein wenig mehr zu wissen als die ahnungslosen Flaneure, die in ihrer Partnerwahl mitunter keine sehr glückliche Hand bewiesen.

So wie zum Beispiel die bedauernswerte Violette Kaye, eine Protagonistin aus der realen Kriminalgeschichte Brightons. 1934 fand man ihre Leichenteile in einem großen Koffer im Schließfach des Bahnhofs von Brighton, was als Trunk Murder in die Geschichte einging. Es war nicht der einzige Mord in Brighton, bei dem das Opfer in einem großen Koffer am Bahnhof endete. Dunkle Schatten über der Stadt, Mord und Totschlag verdunkelten so auch den schönsten Sonnenuntergang am Pier.

Schon 1992 sah der West Pier ziemlich mitgenommen aus Foto: TopFoto/ullstein bild

Ein spätes Geständnis

Violette Kaye war Tänzerin, die auch als Prostituierte gearbeitet hatte, sie wurde als letztes zusammen mit ihrem Freund Tony Mancini, im Café Skylark gesehen, wo er als Kellner arbeitete. Dabei hatten sie sich sehr lautstark gestritten. Als man dann ihre Leichenteile fand, fiel der Verdacht sofort auf Mancini, der alles abstritt und in der Gerichtsverhandlung schließlich freigesprochen wurde. Erst viele Jahre später gab er den Mord zu, um das Geständnis kurz darauf wieder zurückzunehmen. Ein notorischer Kleinkrimineller mit einem Hang zur Gewalt, die schließlich in einer entfesselten Mordtat im Affekt endete.

Die Nähe zu London war für harmlosere Großstadtkriminelle sowieso traditionell sehr verlockend, um ein paar Tage unterzutauchen, vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Filmklassiker „Brighton Rock“ (1948) nach dem Roman von Graham Greene erzählte genau so eine Gangstergeschichte, bei der es zum tödlichen Showdown am Pier kam, diesmal jedoch am Palace Pier, der 1899 eröffneten zweiten großen Seebrücke Brightons. Die hatte mehr Glück als ihr westlicher Rivale, ist ein würdiger Nachfolger, und bietet Amüsierwilligen heute einen ganzen Vergnügungspark auf Stelzen, inklusive Achterbahn, Spielhöllen und Restaurants.

Der Lauf der Dinge ändert sich nie, und noch immer flanieren Urlauber am Strand von Brighton, nehmen den Palace Pier in Beschlag, wenig wissend über die fiktiven und realen Geschichten des dunklen Brighton. Auf dem West Pier sind die Lichter schon lange erloschen.