Henry kommt zum Schach her

taz-Sommerserie „Im Schatten“, Teil 3: „Kleiner Frieder“ heißt ein mobiler Nachbarschaftstreff des Stadtteilzentrums Friedrichshain. Unter Kastanienbäumen gibt es hier offene Treffs, dazu Kaffee und Kuchen – vor allem aber finden sich Gesellschaft und Austausch

Gut beschattet von Bäumen: der Nachbarschaftstreff „Kleiner Frieder“ in Friedrichshain Foto: Dennis Yenmez

Von Andreas Hergeth

Unter ausladenden Kastanienbäumen sitzen mitten am Tag zwei Menschen im Schatten vor einem Tinyhouse aus hellem Holz mit großen Fenstern, das „Kleiner Frieder“ heißt, und spielen Schach. Man gesellt sich dazu, sagt Hallo und schaut interessiert eine kleine Weile zu. Das hat etwas Entspanntes.

Rechts vorm Brett sitzt Niclas Triebel, links ein kleiner Junge mit bunten Spangen im Haar, er heißt Henry, wie sich später herausstellt, und ist mit seiner alleinerziehenden Mutter hier. Unvermittelt raunt er dem Reporter zu: „Meine Taktik ist zu gewinnen!“ Aha. Zug um Zug geht es voran, dazu gibt’s immer mal wieder Erklärungen von Niclas – hier duzen sich alle –, und schon heißt es „Schach“ und gleich wieder „Schach“ und dann „Schach matt“. Niclas hat diesmal gewonnen. Das wurmt Henry nicht weiter. Denn es gibt nachher Revanche.

Es ist Mittwoch. Das ist der Tag in der Woche, an dem Niclas Dienst hat. Auch an anderen Wochentagen gibt es hier Angebote, Aushänge machen darauf aufmerksam. Der mobile Nachbarschaftstreff „Kleiner Frieder“ – das Tinyhouse hat Räder – ist Ableger und Außenstelle des Stadtteilzentrums Friedrichshain, das von der Volkssolidarität betrieben wird, Niclas ist für Mobile Stadtteilarbeit zuständig. Seit Anfang August 2023 steht der „Kleine Frieder“ auf einem Teil des Parkplatzes an der Palisadenstraße Ecke Koppenstraße in unmittelbarer Nähe zur Karl-Marx-Allee in Friedrichshain, beschattet von den benachbarten ausladenden Kastanienbäumen.

„Wir wollen ein Treffpunkt für die Nachbarschaft hier im Kiez mit Beratungsangeboten und offenen Treffs sein“, sagt Niclas. Das Tinyhouse bietet Raum für unterschiedliche Angebote, für Treffen von Initiativen, von Vereinen und Selbsthilfegruppen, für Beratungen für Geflüchtete und die Nachbarschaft, Spieletreffs – umsonst und draußen. Bei schlechtem Wetter aber und auch in der kalten Jahreszeit finden im Tinyhouse kleine Gruppen ihren Platz.

Das Schönste allerdings ist: Hier kann man sich zusammenfinden und austauschen, im wahrsten Sinne niederlassen, auch wenn man wenig oder gar kein Geld hat, ohne dass es etwas kostet oder es einen Verzehrzwang gibt.

Das Stadtteilzentrum Friedrichshain hat insgesamt drei Standorte. Es gibt die „Pauline“ in der Pauline-Stegemann-Straße 6 und den (gewissermaßen großen) „Frieder“ in der Friedensstraße 32 sowie in der Hausnummer 34 den „LeihPunkt“, wo Werkzeuge etc. auszuleihen sind. Der „Frieder“ ist gerade geschlossen, dort – in der ehemaligen Polizeiwache – wird ein neues großes Stadtteilzentrum gebaut. Die Grundsanierung dauert wohl bis weit hinein ins vierte Quartal des nächsten Jahres, erzählt Niclas bei einem Kaffee unter Kastanien. Gewissermaßen als Ersatz wurde der „Kleine Frieder“ erfunden. „Wir wollten im Kiez weiter aktiv bleiben und mit der Nachbarschaft ins Gespräch kommen und ein niedrigschwelliges Angebot schaffen.“

Nun, das ist offensichtlich gelungen. An diesem Mittwoch lädt wie immer an diesem Tag das Kiez-Café von 14 bis 16 Uhr ein. Niclas und zwei Kolleginnen sind dann vor Ort. Es gibt Kaffee und verschiedene Tees und Kuchen gegen eine kleine Spende. Den Kuchen sollte man unbedingt versuchen, denn der ist verdammt lecker, die Frauen von der Backgruppe des Stadtteilzentrums haben ihn gebacken. Man kann Schach spielen wie Henry. Oder Gesellschaftsspiele ausleihen oder jonglieren oder sich einfach niederlassen und unterhalten – oder das Fahrrad auf Vordermann bringen lassen. „Mittwochs ist immer Uwe da“, erzählt Niclas, „der gerne Fahrräder repariert – ehrenamtlich.“ Nur leider heute nicht. „Uwe ist mit anderen 15 Leuten in der Andy-Wahrhol-Ausstellung.“ Der Besuch ist ein Angebot des Stadtteilzentrums.

Sabine Drangsal ist dort für die Ehrenamtler und die Stadtteilprojekte zuständig. Sie bietet immer donnerstags von 14 bis 16 Uhr sowie montags von 10 bis 12 Uhr eine Art Sprechstunde für allerlei Alltagssorgen an, wie immer gibt es Kaffee, Tee und Kuchen. Samstags findet zudem von 13 bis 15 Uhr ein offener Treff statt. „Wir versuchen, mit dem Kleinen Frieder Raum und Struktur vorzugeben, und sind ansprechbar und offen für die Menschen aus dem Kiez“, sagt Sabine. „Wer Lust hat mitzumachen und sich einbringen will, ist mit seinen Ideen willkommen.“

Sabine – wie gesagt: hier duzt man sich – erzählt von einem englischen Journalisten aus dem Kiez, der schon immer mal Stadtführungen anbieten wollte. Nun macht er genau das und offeriert ortskundige Stadtspaziergänge wie den rund um die Weberwiese in Friedrichshain. „Es geht um Teilhabe und Austausch untereinander“, sagt Sabine, „und darum, die Leute ins eigene Tun zu bringen. Das hier ist Demokratiearbeit.“

Wo Sonne auf Beton trifft, da wird es schnell unangenehm heiß. Und das Leben in der Großstadt kann im Sommer ganz schön unwirtlich sein. Abhilfe verspricht der Schatten – doch auch dort ist es nicht nur gemütlich. In dieser Sommerserie widmen wir uns dem Schatten als Überlebensraum für hitzegeplagte Stadtbewohner*innen wie auch als Ort für Menschen, die die Gesellschaft gern an den Rand drängt. Oder leicht übersieht.

Welche Zielgruppe peilt die Volkssolidarität mit dem Projekt an? „Alle sind die Zielgruppe“, sagt Niclas, „alle, die an einem toleranten Miteinander interessiert sind.“ Mal kommen gut ein Dutzend Leute, mal auch nur fünf, sagt Niclas. „Es kommen Junge und Alte, die Besucherschaft ist bunt durchmischt.“ Mal sind es Stammgäste, manchmal Laufkundschaft. Gerne würden das Angebot Senioren annehmen, die zu Hause niemanden zum Reden haben. Die „Pauline“, der Standort in der Pauline-Stegemann-Straße, ist für viele aus dem Kiez schon zu weit weg, um zu Fuß hinzukommen und die Fahrt mit der Tram zu umständlich, erzählt Niclas. Und auch, dass es „manchmal reicht, ein guter Zuhörer zu sein“.

Niclas arbeitet für das Stadtteilzentrum als Werkstudent mit 20 Stunden pro Woche. Der 27-Jährige studiert Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität und hat zuvor schon ehrenamtlich im Stadtteilzentrum mitgearbeitet. Er hat eineinhalb Jahre eine Smartphone-Sprechstunde angeboten. „Der Bedarf nach Beratung ist groß.“ Danach schloss sich ein Pflichtpraktikum im Rahmen des Studiums an. Und nun der Job im „Kleinen Frieder“ – und schon begrüßt Niclas einen Stammgast.

Die Dame mit Sonnenhut hat sich gerade ein Stückchen Kuchen und einen Tee gegönnt. Sie möchte ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, gibt aber bereitwillig Auskunft. Sie wohnt um die Ecke, „es ist gar nicht weit“, nur ein paar hundert Meter, mit dem Rollator schafft sie den kurzen Weg. Die 93-Jährige ist „so gut wie jeden Mittwoch“ hier unter den Kastanienbäumen, wie sie erzählt, manchmal geht sie auch zum Tauschmarkt. „Ich bin hier unter Leuten und sitze nicht allein zu Hause rum“, sagt sie, „das ist doch gut.“ Sie würde sich jedes Mal ein Stück Kuchen gönnen und betont, wie glücklich sie darüber ist, dass es den „Kleinen Frieder“ gibt. „Das hier ist für jedermann. Das ist doch toll.“

Wie zur Bestätigung kommen zwei junge Frauen mit einem Kind vorbei. Das sucht in der Kiste mit gespendeten Spielsachen, die zu verschenken sind, nach etwas Brauchbarem, während es sich die Erwachsenen im Schatten unter den Kastanien bequem machen und plauschen.

„Ich bin hier unter Leuten und sitze nicht allein zu Hause rum“

Eine 93-jährige Besucherin

Ein paar Minuten später kommt eine ältere Frau mit einem Fahrrad vorbei und hat ein Plüschtier in der Hand. Sie hat Zeit für einen klitzekleinen Plausch mit Sabine, die fragt, ob nicht Zeit für einen Kaffee wäre? Die beiden kennen sich offensichtlich gut. „Nein“, erwidert die Angesprochene, „heute nicht, ich muss zu meiner Mutter, da gibt es jetzt Kaffee. Aber beim nächsten Mal. Und den hier“ – sie wedelt mit dem Stoffhasen – „hätte ich euch ja gespendet, wenn er noch Augen hätte.“

Kurz danach ist Sabine erneut in einem kurzen Gespräch, denn immer wieder kommen Passanten vorbei, bleiben stehen und lesen in den Aushängen oder greifen nach einem der Flyer. Der „Kleine Frieder“ mitsamt seinem Publikum fällt halt auf (und ein Aussteller macht in mehreren Sprachen auf ihn aufmerksam). Ein junger Mann mit Migrationshintergrund fragt, was das hier denn sei? Aufgeklärt, sagt er: „Das ist ja interessant, dann komme ich bald mal mit meinen Kindern vorbei, wir wohnen hier im Kiez.“

Vielleicht auch mal zum Bingo? Seit Juni bietet Niclas das einmal im Monat an, immer am vierten Mittwoch des Monats. Damals kam Henry mit seiner Mutter durch Zufall vorbei – seitdem lassen sich die beiden öfter hier sehen, damit Henry Schach gegen Niclas unter den Kastanienbäumen spielen kann. Bleibt ein Wermutstropfen: Öffnet der „große“ Frieder wieder – das wird voraussichtlich nach einem Testbetrieb Anfang 2026 sein –, wird der „Kleine Frieder“ wohl wieder verschwinden, an eine Verstetigung des Projekts ist (bislang jedenfalls) nicht gedacht.