Allein in der Machowelt

Gewalt nicht auf die nächste Generation übertragen: Viggo Mortensens zweite Regiearbeit „The Dead Don't Hurt“ blickt frisch auf den Westernfilm

In diesem Western ist sie die Hauptfigur: Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps) Foto: Alamode

Von Thomas Abeltshauser

Es fängt gleich mit mehreren Toten an. Noch ist die Leinwand schwarz, nur ein röchelndes Atmen zu hören. Der sonnendurchflutete Laubwald, durch den ein Ritter mit Rüstung und Fahne reitet, erweist sich als letztes inneres Bild einer Frau auf dem Sterbebett, deren starrgeweitete Augen sanft von der Hand des trauernden Gatten geschlossen werden. Schnitt. Ein bewaffneter Mann tritt aus dem Saloon eines Westernkaffs. Drinnen hat ­Weston Jeffries (Solly McLeod) gerade jemanden erschossen, einen zweiten tötet er auf offener Straße, bevor er auf sein Pferd steigt und langsam davonreitet. Während hier der Tote im Staub liegen bleibt, begräbt Holger Olsen (Viggo Mortensen) seine verstorbene Frau neben der Holzhütte irgendwo im Niemandsland Nevadas. Stoisch lässt er sich den Schmerz nicht anmerken. Wegen des kleinen Jungen, der neben ihm am Grab kauert. Und weil er in seinem Leben schon genug Tod gesehen hat.

„The Dead Don’t Hurt“ heißt sie dann auch, die zweite Regiearbeit des Schauspielers Viggo Mortensen, der als Darsteller wortkarger Antihelden in Western wie „Appaloosa“ und zuletzt „Eureka“ eng mit dem Genre verbunden ist und hier seine ganz eigene Interpretation liefert. Nach dem verlustreichen Beginn meidet er weitere Schießereien und Pferdejagden weitgehend, fokussiert sich auf das Epische und Mythische und spielt dabei geschickt mit Konventionen, indem er eine weibliche Figur ins Zentrum des traditionell männer­dominierten Genres rückt.

1860, kurz vor Beginn des Bürgerkriegs, begegnen sich in San Francisco die Frankokanadierin Vivienne Le Coudy (die in Berlin lebende Luxemburgerin Vicky Krieps, „Corsage“) und der dänische Einwanderer Olsen. Vivienne ist da noch mit einem reichen Kunsthändler verbandelt, doch der zupackende Zimmerer Holger gefällt ihr gleich. Und so folgt sie ihm bald ins abgelegene Tal in Nevada, wo er ein kleines Blockhaus gebaut hat.

In der Liebe bewahren sie sich ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die das Paar immer wieder neu verhandeln. Vivienne will selbst Geld verdienen und nimmt eine Stelle im Dorf­saloon an, zunächst gegen ­Holgers Willen. Im respektvollen Ausloten entsteht so langsam ein gemeinsames Leben, das jäh unterbrochen wird, als der Bürger­krieg ausbricht und Holger spontan beschließt, für die Union an die Front zu ziehen.

Auf sich gestellt, kämpft sich Vivienne als alleinstehende Frau tapfer durch, auch gegen die willkürliche Machowelt im Dorf unter Bürgermeister Rudolph Schiller (Danny Huston). Der sexualisierten Gewalt des brutalen Ranchers Weston Jeffries ist sie jedoch schutzlos ausgeliefert. Als Holger nach Jahren wiederkehrt, findet er seine Frau mit einem Sohn vor, den nicht er gezeugt hat. Sie versuchen von vorne anzufangen, nun als Familie, trotz aller Traumata. Während er von seinen Kriegserfahrungen schweigt, schwört Holger Rache für das Leid, das seiner Frau widerfuhr.

Wie das Familiendrama „Falling“ ist auch der Nachfolger ein durch und durch eigenes Werk, bei dem Mortensen neben Regie und Hauptrolle erneut Drehbuch, Musik und Produktion übernommen hat. So unterschiedlich die Filme sind, handeln beide von Sterben und Abschiednehmen, Trauer und Trauma und sind von Mortensens 2015 verschiedener Mutter Grace Gamble Atkinson inspiriert, der er seinen Zweitling gewidmet hat.

Dabei ist „The Dead Don’t Hurt“ weder Nabelschau noch Egotrip, sondern eine kluge Reflexion über Schuld und Verantwortung, die Mortensen in epischen Bildern und mit Zeitsprüngen, Rückblenden und Visionen verschachtelt erzählt. Die ikonischen, bisweilen fast zu schön kadrierten Einstellungen des dänischen Kameramanns Marcel Zyskind verweisen immer wieder auf klassische Motive und Vorbilder, die von Pioniergeist und Freiheitsdrang erzählen, vom mühsamen Abringen einer Existenz in rauer Wildnis, und sie zugleich hinterfragen.

Weder Nabelschau noch Egotrip, sondern eine kluge Reflexion über Schuld und Verantwortung

Als Sohn einer US-Amerikanerin und eines Dänen ist Mortensen in mehreren Kulturen aufgewachsen, in Argentinien und den USA, lebt heute meist in Madrid. Abgesehen von Jacques Audiard und seinem mit europäischem Blick inszenierten „The Sisters Brothers“ abgesehen, versteht Mortensen wie kaum ein anderer, dass der Western als uramerikanisches Filmgenre von Migrationserfahrungen erzählt, und lässt seine Figuren entsprechend in einem multikulturellen Gewirr aus Sprachen und Akzenten sprechen.

Am Ende wird sein Holger Olsen zwar nicht der edle Ritter, von dem Vivienne vielleicht ohnehin nie geträumt hat, doch er hat zumindest begriffen, dass eine Zukunft nur lebenswert ist, wenn er sich ihr mit Güte und Haltung stellt und versucht, die Traumata der Gewalt nicht auf die nächste Generation zu übertragen. Was nützt der Schmerz um die Toten, wenn uns die Erinnerung an sie nicht etwas für unser Leben lehrt? Damit ist Mortensen seine ganz eigene, sehr zeitgemäße Neuinterpretation des Western gelungen, die auch Menschen gefallen dürfte, die mit dem Genre sonst eher wenig anfangen können.

„The Dead Don’t Hurt“. Regie: Viggo Mortensen. Mit Vicky Krieps, Viggo Mortensen u. a. ­USA/Mexiko 2023, 129 Min.