„Überlandschreiberinnen“: Sie hatten so viel Spaß

Die Stadt ist die, die sie einmal war, und dennoch eine andere. Unsere Autorin begibt sich auf eine Reise durch die Zeit mit Ingrid aus Suhl.

Betriebsfeier in der DDR 19808 und Skisprung im Berggebiet 1956/57 Foto: Open memory Box

Man empfindet sich selbst nicht so alt, wie andere uns sehen. Das Phänomen gilt für uns alle. Wie ist das in Suhl, in der Stadt mit dem höchsten Anteil an älteren Menschen in ganz Deutschland? Ein Gedankenexperiment.

„Wir haben so viel Spaß gehabt!“, meint die zweiundsiebzigjährige Ingrid begeistert.

Dieser Text ist Teil der Serie „Überlandschreiberinnen“. Die drei Schriftstellerinnen Manja Präkels, Tina Pruschmann und Barbara Thériault dokumentieren unter diesem Namen ihre Reisen durch Ostdeutschland im Sommer 2024. Das Projekt wird koordiniert von der Uni Leipzig und finanziert von der VW Stiftung. Die taz veröffentlicht die Texte im Rahmen der Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.

Wir sitzen auf der Terrasse einer Kneipe am neu gepflasterten Boulevard in Suhl. Ich bin zehn Tage in der Stadt und weiß schon, wer wann wo was trinkt – und die Suhler:in­nen wiederum, wo ich mit wem wann was trinke. Schnell hat man hier die Gaststätten und deren menschliches Inventar erkundet.

Ingrid redet ausgiebig. Ich höre ihr zu und schaue mich dabei um. Wie jeden Tag beobachte ich dasselbe: alte Menschen, die in der Altstadt unterwegs sind. Der Rollator prägt längst das Bild vieler Städte Thüringens, vor allem vormittags, wenn deren Schie­be­r:in­nen kurze Wege langsam erledigen. Als Ingrid wiederholt: „Was meinst du, wie viel Spaß wir hatten!“, wage ich ein Experiment: Ich versuche, mir die Be­woh­ne­r:in­nen vorzustellen, als sie jünger waren: schlanke Männer mit vollen Haaren, Frauen mit zierlichen Füßen und gerader Körperhaltung. In manchen von ihnen erkenne ich das Jugendliche, das bis in die Gegenwart strahlt. Sie werden anders sichtbar, als Einzelne.

Ingrid schlägt mir ein Experiment vor

Ich sollte nicht umherschauen, sondern ihr meine ganze Aufmerksamkeit widmen, fordert Ingrid. Sie erzählt von aufwändigen Frisuren und eleganten Anziehsachen, Cocktailkleidern sogar, die sie in den 1980er Jahren trug. Mit einer Hand streicht sie sich durchs Haar. Sie schaut selbst umher und prüft, wer gerade auf der Hauptstraße entlanggeht. Sie winkt eine Bekannte mit schneeweißer Kurzhaarfrisur herbei. Sie schwatzen kurz über die neusten Neuigkeiten. Als die Frau weg ist, erfahre ich über sie: 85, Ingenieurin a.D. Zusammen waren sie an der Riviera, haben viel erlebt: Männer- und Alkoholgeschichten. „Ich zeige dir später Bilder,“ sagt Ingrid, die immer Beweismaterial bereitstellen möchte. Nun fällt mir ein Detail bei der Bekannten auf, das ich nicht gleich bemerkt habe: ihre gemalten – ich vermute sogar tätowierten – Augenbrauen. Auf einmal passiert etwas: Ich sehe die junge Frau, die sie einmal war, und die Kokette, die sie noch ist.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Zwei angetrunkene Männer um die Siebzig in Jeans und T-Shirts setzen sich zu uns. Ingrid verdreht die Augen, fängt aber trotzdem mit dem „Wir haben so viel Spaß gehabt!“ an und macht dann weiter mit: „Wenn ich daran denke, kriege ich ganz rote Backen.“ Binnen Sekunden ist die Konversationsmaschine in vollem Gang. Man bestellt eine neue Runde und erzählt von früher, von abenteuerlichen Geschichten und Part­ne­r:in­nen – einige davon sind schon verstorben. Ingrid hatte eine Affäre mit einem ausländischen Leistungssportler, ist tollen Frauen begegnet. Es wird ein bisschen anzüglich. Das ganze Kneipenpublikum hört als flüchtige Gemeinschaft der schlüpfrigen Geschichte eines der angetrunkenen Männer zu.

Als die beiden Männer weg sind, macht mir Ingrid Vorhaltungen; das Publikum schaut weiter gespannt zu: Ich hätte die beiden dazu animiert, bei uns Platz zu nehmen. Sie wären einfach peinlich. Auch sie macht bei meinem Gedankenspiel mit und fällt dabei ein Urteil, das kein schönes Licht auf die Vergangenheit wirft: Die zwei angetrunkenen Männer sind nicht attraktiv, auch als junge Männer seien sie es nicht gewesen.

Das Experiment kann man auf Menschen, aber auch auf Städte und deren Orte anwenden.

Manche alte Orte existieren noch

Suhl ist die gleiche Stadt, die sie einmal war, und dennoch eine andere. In den 1990er Jahren zogen viele ihrer jüngeren Ein­woh­ne­r:in­nen weg und die Gebliebenen bekamen weniger Kinder. Von 56.000 Ein­woh­ne­r:in­nen Ende 1988 sind es 37.000 Ende 2023 geworden. Ein Drittel der Stadtbevölkerung ist älter als 65 Jahre.

Trotz aufwändiger Sanierungsarbeiten nach 1990 scheint Suhl über den Zenit seiner Zeit hinaus zu sein. Es ist keine Bezirksstadt mehr mit Verwaltung, Industrie, einer Offiziersschule, Hotels und Sporteinrichtungen. Die Verjüngung mancher Stadtteile ging einher mit dem Rückbau anderer. Das Wohnviertel, in dem Ingrid über 30 Jahre lebte, wurde größtenteils abgerissen.

Manche Orte – wie die Kneipe in der Altstadt, wo wir gerade trockenen Weißwein trinken – existieren noch. Ich suche sie auf und schaue mir alte Fotografien an, aber sie erschließen sich mir nicht. Ingrid und ihre Bekannten haben jedoch die – durch den Alkohol verstärkte – Fähigkeit, diese Orte und ihre Auren durch ihre Erinnerungen, Gedächtnisbilder und Erzählungen heraufzubeschwören und ihnen einen Glanz zu verleihen, der für auswärtige Be­trach­te­r:in­nen nicht ersichtlich ist: DDR-Schick in Form von Gaststätten und Kaminen in Hotelbars, wo Erfolge und Misserfolge von Weltmeisterschaften im Schießen oder im Rennrodeln mit Rotkäppchen-Sekt gefeiert wurden.

Wenn eine auswärtige Person wie ich bemerkt, dass alte Menschen das Bild Suhls – und anderer ostdeutscher Städte – prägen, reagieren diese Menschen oft empfindlich. Die Bemerkung wirkt befremdlich. Man muss verstehen: Sie selbst empfinden sich nicht so alt, wie wir Be­trach­te­r:in­nen sie sehen. Wenn hiesige Frauen und Männer über Siebzig über alte Menschen reden, meinen sie nicht sich selbst, sondern noch ältere. Anders formuliert: Wenn sie sich die eigene Stadt und ihre Be­woh­ne­r:in­nen ansehen, sehen sie etwas, was uns weitgehend verborgen bleibt. In der Diskrepanz zwischen der von der Statistik gestützten Beo­bachtung über die Alterung der Bevölkerung und ihrer Selbstbetrachtung liegt eine Irritationsquelle und möglicherweise der Wunsch, gesehen zu werden.

Trotz Zweifeln an manchen Details (trug Ingrid wirklich Cocktailkleider?) und mitunter des Scheiterns meines Experiments (bei manchen Personen und Orten lässt sich kein Bild von früher heraufbeschwören) ist eins sicher: Meine neuen Bekanntschaften können sich amüsieren, ein Fünkchen von früher ist noch da. Wie heute Abend. Beim Verlassen des Lokals kommt ein Mann zu unserem Tisch, der uns den ganzen Abend belauscht hat. Wie nach einer Aufführung möchte er sich bedanken. Ja, er hätte viel Spaß gehabt.

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