Traum, Trauma, Trump

Die Kandidatur von Kamala Harris holt die Demokraten aus der Misere. Doch Harris’ wachsende Popularität garantiert ein erbittertes Rennen – mit mehr Rassismus und Sexismus

Illustration: Katja Gendikova

Von Michaela Dudley

Wir wählen die Freiheit“, so Kamala Harris. Mit einem fulminanten Start verkündete die 59-jährige US-Vizepräsidentin vor knapp zwei Wochen, die Geschicke der Vereinigten Staaten und ihrer 333 Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen lenken zu wollen. An Dreistigkeit nicht zu überbieten. Oder doch?

Mit jeder neuen strafrechtlichen Verurteilung brüstete sich Trump damit, häufiger angeklagt worden zu sein als Al Capone. Seine handverlesenen Marionetten auf der Richterbank des ­Supreme Court versicherten ihm, er stehe eh über dem Gesetz. Dann gelang ihm die ­ultimative ­Täter-Opfer-Umkehr, als er einer Kugel knapp ausgewichen war.

Das Foto, das ihn mit blutverschmiertem Antlitz und erhobener Faust unter dem Sternenbanner zeigt, habe seinen Triumph besiegelt, hieß es. Erst recht deshalb, weil Bidens abgeschriebene Partei nach dem desaströsen TV-Duell nichts als „Demenzkratie“ bieten könnte. Doch dann verzichtete Biden auf eine neue Kandidatur – und nun sieht Trump alt aus.

Fakt ist, der ambitionierten Afroamerikanerin werden gute Chancen eingeräumt, die erste ­Madame Präsidentin der USA zu werden. Das entfacht allerdings den Zorn der Republikaner:innen. Infolgedessen bekommt Harris die Misogynoir, die toxische Mischung aus Sexismus und Anti-Black-Rassismus, in steigenden Dosierungen zu spüren, wird etwa als Quotenfrau gebrandmarkt. DEI hire (sinngemäß „Diversityangestellte“) ist das neue Buzzword. Queen Kamala ist aber keine Quotenfrau, sondern vielmehr eine Quotenbrecherin. Innerhalb der ersten 24 Stunden nach Bekanntgabe ihrer Kandidatur erzielte sie einen Spendenrekord. Sage und schreibe 81 Millionen Dollar fuhr sie ein, und zwar meistenteils in Form von Kleinbeträgen.

Klar ist: Wenn eine Schwarze Frau ehrgeizig ist, wird es als Provokation empfunden. Man reagiert mit garstiger Geringschätzung. Harris wird als faul, inkompetent und laut dargestellt. Es wird eindringlich gemahnt, die Zeit sei immer noch nicht reif für irgendwelche Experimente. So hieß es bereits 1972, als die afroamerikanische Demokratin Shirley Chisholm für das Präsidentenamt mutig, wenn auch erfolglos kandidierte. Genauso klang es vor vier Jahren, als Harris die Vizepräsidentschaft anstrebte. Die Welt steckte inmitten der Pandemie und einer hartnäckigen Rezession. Erzkonservative verspotteten und verachteten Joe Biden dafür, ausgerechnet Harris als Wahlkampfgefährtin auserkoren zu haben. Aber siehe da, es hat geklappt.

„We did it, Joe!“, jubelte Harris damals in einem legendären Video. Denn das Gespann Biden/Harris hatte es bei großer Wahlbeteiligung geschafft, den amtierenden Präsidenten Donald Trump und dessen Vizepräsidenten Mike Pence zu besiegen. Doch damit war der Kampf nicht vorbei. Trotz seiner eindeutig bestätigten Niederlage klebte Trump am Oval Office. White male entitlement nennt man das.

Bei der Aufrechterhaltung des weißen männlichen Besitzanspruchs spielen Rituale eine wichtige Rolle. Denken wie bitte kurz an den Washingtoner Dreikönigstag 2021 zurück. Beim tödlichen, von Trump höchstpersönlich angestifteten Sturm aufs Kapitol stachen viele der Hausfriedensbrecher durch ihre Montur und ihre Mitbringsel ins Auge: Konföderiertenflaggen, Kriegsbemalung, Waschbärfelle, Wikingerkopfschmuck. Eine Vereinigung von Insurgents und Inceligentsia. Kunterbunt, doch einem rassifizierten Reinheitsgebot gehorchend. Von den rund 400 festgenommenen Pro-Trump-Aufständischen waren 93 Prozent weiß und 86 Prozent Männer.

Sollte eine Präsidentin Harris in das majestätische Quartier an der Pennsylvania Avenue einziehen, wäre das noch lange nicht das Ende des Patriarchats, sondern der Anfang eines Heilungsprozesses. Denn die Vereinigten Staaten leiden chronisch an MAGA-Sucht. Das reiche Land ist seelisch unterernährt, sozial verhungert und hat, kollektiv betrachtet, den Hunger auf Harmonie verloren. Diese Auffassung sei mir gestattet. 1961 erblickte ich ebenda das Licht der Welt, und zwar im Schatten der Freiheitsstatue. Meine Vorfahren waren schon seit Jahrhunderten da. Zuerst als Versklavte, dann als Soldatinnen. Das gelobte Land der unbegrenzten Möglichkeiten war für uns eigentlich immer ein Land unmöglicher Begrenzungen.

Herbst 1964. Meine Mutter nahm mich zum Wahllokal mit. In einer Pfütze auf dem Schulhof trieb ein Handzettel. Ich hob ihn auf. Auf dem Flyer prangte „Make America Great Again“. Mit drei Jahren konnte ich das natürlich nicht entziffern. Aber ich erkannte den abgebildeten Kandidaten wieder und machte somit meine allererste Wahlempfehlung.

„Coldwater!“, so schrie ich. Freude mit einem Freud’schen Versprecher. Eine kalte Dusche erfolgte auf der Stelle.

Der Herr hieß eigentlich Goldwater. Barry Goldwater. Der republikanische Senator, der Präsident sein wollte, hatte allerdings jüngst gegen progressive Bürgerrechtsgesetze abgestimmt. Nun, wir hatten Verwandte in den südlichen Bundesstaaten. Aufgrund ihrer Hautfarbe durften sie nicht wählen, obwohl sie seit Generationen US-Bürger:innen waren und sich nichts zuschulden kommen ließen. Wie Großtante Henrietta in Kentucky. Auch wenn der Wahltag in den USA seit eh und je auf einen Dienstag fällt, hatte sie sich stolz in ihren Sonntagstaat geworfen und das Geld für die dubiose Kopfsteuer zusammengekratzt, um ihre Stimme abzugeben. Doch der Wahlbeamte zerriss den Stimmzettel und ließ die tränenüberströmte Henrietta von einem Hilfssheriff hinaus­eskortieren, weil sie beim Jelly-Bean-Test durchgefallen ist.

Es war die Jim-Crow-Ära. Um an die Wahlurne heranzutreten, mussten südstaatliche Schwarze nicht nur genug Dollars aufbringen, sondern auch ihre Intelligenz messen lassen. Wahlbeamte stellten sie vor unlösbare Aufgaben, etwa die Schätzung der Anzahl von Süßigkeiten in einem Gefäß, um sie von der Teilnahme an Wahlen abzuhalten.

So machte Mama ihr Kreuz lieber bei Lyndon Baines Johnson alias LBJ. Er siegte und boxte während seine Amtszeit umfassende Wahlrechtsreformen durch. Erzkonservative beargwöhnten solche Fortschritte. Deshalb griffen im Laufe der Jahrzehnte Männer wie Ronald Reagan die MAGA-Schlachtparole wieder auf. Allerdings war es erst Trump, der den Slogan markenrechtlich schützten und auf Baseballmützen, Bikinis und T-Shirts drucken ließ. MAGA ist, kurz gesagt, die Sehnsucht nach einer Zeit, in der hörige Ehegattinnen hauptberuflich am Herd hantierten und Minderheiten ausgegrenzt und eingeengt wurden. Ein talentiertes Girl wie Kamala Harris, Tochter eines jamaikanischen Vaters und einer indischen Mutter, hätte so kaum Aussichten auf den sozialen Aufstieg.

Foto: Fotogalerie

Michaela Dudley, Berliner Queer­feministin und Juristin mit afro­amerikanischen Wurzeln, sagt: „Die Entmenschlichung fängt mit dem Wort an, die Emanzipierung aber auch.“

Sommerferien 1967. Verwandtenbesuch in Pulaski, Tennessee. Dem Ort, an dem man 1865 den Ku-Klux-Klan aus der Taufe gehoben hatte. Das spürten wir, als uns eines Nachts ein Pick-up von der Landstraße drängte. Grillenzirpen, Schnapp­atmung. Ein weißer Junge sprang raus, Tabak kauend und mit der Winchester wedelnd. Unser ­Chevrolet steckte im Graben fest.

Meine Eltern mahnten mich, den Kopf einzuziehen und keinen Mucks von mir zu geben. Papa, der in der U. S. Air Force im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, wurde mit „Boy“ angesprochen, Mama, eine erfahrene pädagogische Assistentin, wurde wie eine exotische, verfügbare Dienstmagd behandelt.

Auf einmal stieg die Beifahrerin des jungen Kerls aus. Eine Hochschwangere mit Kassenbrille und Lockenwicklern. Sie keifte ihn an, er solle die „Negras“ weiterfahren lassen. Dieser Angriff auf seine Autorität ließ ihn schäumen. Mit dem Kolben seiner Schrottflinte stieß er auf unsere Motorhaube, dann bespuckte er unsere Windschutzscheibe. Anschließend griff er seine Beifahrerin am Schopf und zog sie zurück in den Pick-up. Die Heckleuchten der beiden verschwanden bald aus unserem Blickfeld. Heute wären sie Nebendarstel­lende in einer Elegie des ­Hinterwäldlers J. D. Vance.

Ich weiß noch, wie ich mit meinen knochigen Armen und zitternden Händen mit anpackte, um unser Auto zu schieben. Eins war mir damals noch nicht so bewusst: Vor meinen weit aufgerissenen Augen hatte sich just eine Metapher für die amerikanischen Machtverhältnisse abgespielt.

Aber wer soll nun als US-Präsident:in den Karren aus dem Dreck ziehen? Meine sarkastische Ader meint: Handelt es sich um die Erledigung der Drecksarbeit, gibt es eh keine geeignetere Kandidatin als eine Schwarze.

Das reiche Land ist seelisch unterernährt, sozial verhungert und hat, kollektiv betrachtet, den Hunger auf Harmonie verloren

Harris, die eloquente Ex-Generalstaatsanwältin Kaliforniens, ehemalige US-Senatorin und amtierende Vizepräsidentin, steht einem mehrfach verurteilten Verbrecher gegenüber, der öffentlich von Hannibal Lector schwärmt. Worin liegt die „Qual“ der Wahl?

Natürlich ist die Wählerschaft bereit für eine Madame Präsidentin. Das hat sie 2016 bewiesen, als Hillary Clinton fast drei Millionen Stimmen mehr als Trump erhielt! Blöd nur, dass das Electoral College, das Gremium der Wahlmänner, das Sagen hatte. Bei der Wahl hatten viele weiße Frauen in ländlichen Regionen Trump gewählt. Das war 2016 das Zünglein an der Waage bei den Wahlmännern. Zum Glück gibt es mittlerweile Hunderttausende „White Women for Kamala“, die sie als Symbol für eine neue Ära euphorisch feiern und somit Mil­lio­nen andere weiße Frauen animieren. Diesmal kann es also wirklich was werden.

Was Deutschland betrifft – Chapeau! 16 Jahre unter Angela Merkel haben bewiesen: Eine Demokratie kann eine Regierungschefin aushalten. Wobei es von Anfang („Kann die das denn?“) bis Ende („Männermörderin“) patriarchale Missgunst hagelte. Vielleicht achtete Annalena Baerbock deshalb darauf, während ihrer Kandidatur den Feminismus nicht großzuschreiben.

Ich schließe mit den Worten von Kamala Harris vom Wahlabend 2020: „Obwohl ich die erste Frau in diesem Amt sein mag, werde ich nicht die letzte sein. Denn jedes kleine Mädchen, das heute Nacht zuschaut, sieht, dass dies ein Land der Möglichkeiten ist!“