Die Qat-Republik

Um die Droge Qat dreht sich im Jemen das halbe Leben. Große Hoffnung setzt der verarmte Jemen auf den Tourismus. Der steht und fällt mit dem Thema Sicherheit. Eine Reise nach Saana, dem Unesco-Kulturerbe, und in das jemenitische Hochland

„Schande über diejenigen, die nicht die Zivilcourage aufbringen, dieses Land zu bereisen“

VON GÜNTER ERMLICH

„Verehrter Gast. Sie leben hier in einer traditionellen und streng konservativen muslimischen Umwelt. Schließen Sie deshalb bitte die Vorhänge, wenn Sie sich um- oder auskleiden. Danke.“ So steht es in Deutsch an der Zimmertür des schönen Altstadthotels Arabia Felix. Spät abends sind wir übermüdet in Sanaa, der Hauptstadt des Jemen, angekommen. Nur acht Flugstunden, aber Welten liegen zwischen Deutschland und dem Land an der Südspitze der arabischen Halbinsel.

Frühstück im schattigen Innenhof. Zwei Männer kommen auf uns zu. „Ich bin Herzensgut und das ist Schwert.“ Der schmächtige Raoof ist Herzensgut, unser Reiseleiter, der zu DDR-Zeiten Verkehrswesen in Dresden studierte. Und der mächtige Saif ist Schwert, unser Jeepfahrer. Sie werden uns in Sanaa, durch den Bergjemen und ans Rote Meer begleiten.

Durch das Stadttor Bab al-Jemen gehen wir in die Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen und Souks. Wie dezent die Verkäufer sind! Nicht so aufdringlich wie die Basarhändler in Marrakesch oder Tunis. Heiner kauft gleich eine Perlenkette im Ali Baba Shop. Zum Dank geleitet uns der Besitzer die Stiege hoch zur Dachterrasse. Von hier oben liegt uns Sem City – der Sage nach wurde Sanaa von Noahs Sohn Sem gegründet – zu Füßen: ein Ensemble fünf-, sechs-, ja achtstöckige Wohntürme aus dunklen Basaltsteinen und Lehmziegeln, mit weißen Stuckornamenten um Fenster und Giebel und Rundbogenfenstern aus Buntglas.

Die steinalten Wohntürme seien Domizile für Großfamilien, erzählt Raoof, oft lebten drei Generationen unter einem Dach, manche Familien hielten noch Schafe, Ziegen und Hühner im Innenhof. Zwischen den Zuckerbäckerhäusern wölben sich die Kuppeln der Moscheen, ragen Minarette wie Bleistiftspitzen auf, verstecken sich Gemüsegärten hinter hohen Mauern. Vor zwanzig Jahren adelte die Unesco diese 1,8 Quadratkilometer große Altstadt zum Weltkulturerbe. Ein weiser Entschluss.

So viel Gastfreundschaft muss man erst einmal verkraften: Ob beim Besuch im Hamam oder im Internetcafé, beim Frisör oder auf der Soukgasse, stets werden wir lächelnd begrüßt. Where are you from? Alemania! Welcome to Jemen! Allerdings nur von Mann zu Mann, denn Frauen bekommen wir nicht zu Gesicht. Sie huschen als tiefschwarz verschleierte Wesen an uns vorbei. Manchmal schaut eine verstohlen durch den Sehschlitz des Schleiers.

Nach zwei Tagen fahren wir mit Raaof und Saif ins Hochland. Am Stadtrand kontrolliert ein Militärpolizist den Passierschein. Ein Zettel des Tourismusministeriums mit unseren Daten und unserer Route. Kurz darauf, an einer Tankstelle, kauft Saif seine Tagesration Qat. Zwei Plastikbeutel für 1.500 Rial (5 Euro). Unablässig stopft er beim Fahren die grünen Blätter der Qat-Pflanze in den Mund, kaut darauf herum, bis ein tennisballgroßer Klumpen die Backe ausbeult. Fast alle kauen sich die Backe dick: Polizisten, Kellner, Händler. Ein teures Vergnügen, das einen Großteil ihrer kleinen Einkommens verschlingt. Um Qat dreht sich im Jenen das halbe Leben, nach dem Mittagessen ist Qat-Time, dann beginnt der vielstündige kollektive Dauerdämmer. Die sanfte Volksdroge ist das jemenitische Lebenselixier. Auch Frauen tun es – allerdings in den eigenen vier Wänden.

„60 bis 70 Prozent der Wasserreserven im Sanaa-Becken geht für die Bewässerung der Qat-Plantagen drauf“, erklärt Raoof. Vor fünf Jahren habe Präsident Salih verkündet, Qat aus Äthiopien zu importieren. Aber nichts ist passiert. „ ‚Das grüne Gold‘ ist halt eine sprudelnde Quelle“, sagt Raoof, „für die Bauern und die Leute von Macht dahinter.“ Von tief eingeschnittenen Tälern ziehen sich Terrassenfelder mit Gerste, Mais und immer wieder Qat die steilen Hänge hoch bis auf 3.000 Meter. Wie Adlerhorste aus Stein thronen Dörfer auf Bergrücken. Die Fehden und Überfälle der rivalisierenden Stämme machten die abenteuerliche Anlage der Siedlungen notwendig. Vom Hotelbalkon in Hajjah überblicken wir die archaische, grandiose Berglandschaft. Es beginnt zu dämmern. Wolken verhängen die Bergkämme, in der Ferne kreisen Milane und Geier am Himmel, unten im Tal ruft der Muezzin zum Abendgebet, hier oben hupen sich Autos die Straße frei.

Was wissen wir vom Jemen? Das zweigeteilte Land, der streng islamisch geprägte Nordjemen und das sozialistisch regierte Südjemen, vereinigten sich im Jahr 1990. Der junge Staat ist die einzige Mehrparteiendemokratie in ganz Arabien, es gibt freie Wahlen und weitgehende Meinungs- und Pressefreiheit. Aber nach wie vor herrschen mächtige Scheichs und Stämme, die sich mit Blutrache und Entführungen bekriegen. Menschenrechtler protestieren gegen Folter und Misshandlungen, die Korruption ist eklatant, über 40 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut, jeder Dritte ist ohne Arbeit, jeder zweite Analphabet. Der Jemen pendelt radikal zwischen Mittelalter und Moderne. Hier der traditionelle Krummdolch, dort das moderne Handy. Saif trägt beides hinter dem Gürtel. Problemlos telefoniert er aus dem Jeep im Hochland zur Firma in Sanaa. Kein Funkloch wie im deutschen ICE.

Inzwischen fahren wir die steile, von deutscher Entwicklungshilfe finanzierte Serpentinenstraße hinauf nach Kaukaban. Im Bürgerkrieg 1962 bis 1969, als sich Republikaner und Royalisten im Nordjemen gegenüberstanden, wurde das Imam-treue „Widerstandsnest“ zerbombt. Heute wirkt das Bergdorf wie ausgestorben, noch immer sind Häuserruinen und Krater zu sehen. Aus der ehemaligen in Fels gehauenen Zisterne ist eine wilde Müllkippe geworden. An der Kante des Bergrückens wollen uns zwei kleine Jungen einen Maria-Theresia-Taler von 1780 verkaufen. Die Silbermünzen waren hier bis 1962 offizielle Währung.

Ein Eselspfad führt hinunter nach Schibam. Ein lebendiger Marktplatz. Kinder strömen auf uns zu, rufen „soura, soura“ und posieren für ein Digitalfoto. Einige Männer tragen die Kalaschnikow lässig über der Schulter spazieren. Kein Grund zur Unruhe, das Gewehr ist reine Manneszier. „Was darf’s denn sein?“, fragt uns der Händler in der Schibamer Schießwarenbude. Eine russische Makarow-Pistole für 100 Euro? Oder dieses antike arabische Gewehr? Nach offiziellen Schätzungen zirkulieren 60 Millionen Waffen im Jemen, darunter 10 Millionen schwere, macht pro Jemenit im Schnitt drei. Doch Waffendichte und Waffengebrauch sind zweierlei Kaliber. So zitierte die englischsprachige Jemen Times einen amerikanischen Schriftsteller. Laut Kriminalstatistik war die Quote „Verbrechen pro Einwohner“ in seiner Heimatstadt Kansas City 97-mal höher als von Sem City (Sanaa).

Mittagspause. Ein einfaches Lokal, groß wie eine Bahnhofshalle, zur Straße hin offen. Rundherum bedeckt Fototapete die Wände. Auf der großformatigen Brooklyn-Bridge klebt ein verblasstes Foto von Saddam Hussein, die Kaaba von Mekka prangt neben dem Präsidenten Salih, der wiederum neben einem malerischen Tiger. Männergruppen hocken an Resopaltischen und essen mit Fingern, Kellner brüllen durcheinander. Einer legt uns eine Doppelseite von La Republicca als Unterlage auf den Tisch, bevor er uns einen Seebarsch vor die Nase hält. Ja, gut, den nehmen wir! Zuerst tunken wir Brocken von hauchdünnem Fladenbrot in die Koriander-Bocksklee-Paprika-Chili-Sauce, dann kommt auch schon der gegrillte Seebarsch, ein gewaltiger Brocken, der den Teller überlappt. Köstlich.

Unsere letzte Station. Relaxen am Roten Meer. 20 Minuten sind es im Motorboot von der Küste bis zur Insel Kamaran. Sandstrände, glasklares Wasser, Mangrovenwälder. Schnorcheln mit Delfinen, schnarchen unter Strohhütten. Inge und Astrid aus Hamburg und Uwe aus Bremen, drei viel gereiste best ager, faulenzen nach der anstrengenden 14-tägigen Rundreise. Welche Bilder bleiben ihnen vom Jemen? „Pap Art, Büsche voller Plastiktüten. Geheimnisvolle Frauen. Ein rückständiges Land. Mangelnde Hygiene, fehlende Kanalisation. Sehr deutschfreundliche Menschen. Hohe Baukunst. Viele Kontrollpunkte unterwegs.“

Große Hoffnung setzt der Jemen auf den Tourismus. Doch der steht und fällt mit dem Thema Sicherheit. Im vergangenen Jahr kamen nur rund 20.000 ausländische Besucher, darunter etwa 30 Prozent Deutsche, sagt der Inhaber von Alzahra Tours. „Heute sind die ausländischen Besucher bei uns sicher.“ Touristen würden auf der früher gefährlichen Strecke von Sanaa nach Marib in Zukunft nicht mehr von der Polizei eskortiert. Das habe der Cousin des Präsidenten verfügt, der in Personalunion Chef der Sicherheitspolizei von Sanaa und der neuen Gesellschaft für Tourismus ist. Seit fast drei Jahren ist es nicht mehr zu Entführungen, Geiselnahmen und bewaffnetem Fahrzeugraub bei westlichen Ausländern gekommen. Inzwischen ist auch die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes aufgehoben. Dennoch gilt das Land noch immer als Sammelbecken für Terroristen und Rückzugsgebiet von Al-Qaida-Kämpfern.

Als Bundeskanzler Schröder Anfang März den Jemen besuchte, hatte er auch Vertreter deutscher Reiseveranstalter im Schlepptau. Ob sie auf Günter Grass hören werden? „Ich fühle mich hier so sicher und aufgehoben wie in Abrahams Schoß“, sagte der Nobelpreisträger bei seiner ersten Jemen-Reise Ende 2002. Und entpuppte sich als aufrüttelnder Tourismuswerber: „Schande über diejenigen, die nicht ein bisschen Zivilcourage aufbringen, dieses wundervolle Land zu bereisen.“