Wo nackte Schafe auf dem Wind reiten

Libanon wählt – aber der demokratische Überschwang von der Zeit, als Massenproteste den Abzug Syriens erzwangen, ist verflogen. Stattdessen wundern sich die Menschen über ihre Politiker. Der „alte Libanon“ triumphiert über den neuen

„Wir haben den alten Libanon nie verlassen. Es sind immer die gleichen Gesichter“

AUS BEIRUT KARIM EL-GAWHARY

Es ist gerade einmal zwei Monate her, als Szenen von Massendemonstrationen am Platz der Märtyrer im Zentrum Beiruts noch zur Tagesordnung gehörten. Zehntausende, meist jugendliche Demonstranten tanzten und schwangen ihre rot-weißen libanesischen Zedernflaggen im Takt der Musik, um für einen Abzug der syrischen Truppen zu demonstrieren.

Jetzt sind die Syrer weg, und am Sonntag finden Parlamentswahlen statt. An vier Sonntagen in Folge werden in verschiedenen Wahlkreisen Libanons die Mitglieder des 128-köpfigen Parlaments gewählt, das dann eine Regierung hervorbringen soll, die endlich unabhängig von Damaskus die Geschicke des kleinen Landes verwalten soll.

Man sollte meinen, in Beirut herrsche Feierstimmung. Aber wer in der libanesischen Hauptstadt eine demokratische Aufbruchstimmung sucht, der sucht vergeblich. Die Party am Platz der Märtyrer ist vorüber. Der Brise vom Mittelmeer lässt die Stoffbahnen der verwaisten Zelte gegeneinander schlagen. Statt von Jugendlichen werden die wenigen verbliebenen Fahnen nur noch von Metal und Holzpfosten getragen. „Wahlkampffieber?“, gibt Jamil Morue, Herausgeber der Tageszeitung Daily Star, donnernd die entsprechende Frage zurück, nachdem er erst einmal hinter seinem Schreibtisch nach einer Wasserkaraffe gegriffen hat. „Der ursprüngliche Enthusiasmus über einen neuen Libanon ist dramatisch gesunken. Die Politiker benehmen sich wie Pferdehändler, so als habe sich nichts geändert.“

Tatsächlich zeigt sich nach dem Abzug der Syrer, wie sehr die libanesische Politik von Familienclans, persönlichen Eitelkeiten und konfessionellem Misstrauen beherrscht ist. Da versucht jeder mit jedem gegen jeden in verschiedenen Wahlbezirken unterschiedliche Koalitionen zu bilden. Es geht nur um Wählerarithmetik und nicht um politische Programme. Das gilt für Drusenführer Walid Jumblatt, den korrupten schiitischen Parlamentssprecher Nabih Berri, den sich als nationalen Retter verkaufenden einstigen christlichen Milizführer „General“ Aoun, die Kinder des ermordeten sunnitischen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri und selbst die schiitische Hisbollah. Sie alle schmieden an ihren Allianzen, ohne zu sagen, wie es mit dem Land ohne Syrer und einem Schuldenberg von 40 Milliarden Dollar weitergehen soll.

„Die Leute haben gegen die Tür gedrückt, und die hat plötzlich nachgegeben und ist ins Haus gefallen ist“, beschreibt Morue den Überraschungseffekt der Massenproteste vor drei Monaten. Keiner habe erwartet, dass die Syrer so schnell und ohne Umstände abziehen und den Libanon sich selbst überlassen. Und jeder wisse, dass US-amerikanischer und französische Druck sowie der Protest des Volkes dafür verantwortlich war und nicht Libanons Politiker. „Die Politiker haben das Volk nicht geführt, sondern sind auf dem Wind geritten, den die Leute durch ihren Flügelschlag erzeugt haben. Und dann haben die Menschen darauf gewartet, dass die Politiker ihrer Wünsche artikulieren“, sagt Morue und springt gleich ins nächste Bild. „Die Politiker sahen in der Öffentlichkeit plötzlich aus wie nackt geschorene Schafe. Und sie hatten bisher nicht genug Zeit, dass das Fell nachwächst.“

Auf Wahlkampfpostern schweben die einstigen Milizchefs der Familienclans gern über ihren heutigen Söhnen. „Die libanesischen Politiker betteln die Geschichte an, um relevant zu sein“, lautet Morues vernichtendes Urteil. Ob der neue Libanon eigentlich nur den alten widerspiegelt? „Wir haben den alten Libanon nie verlassen. Es sind immer noch die gleichen Gesichter, mit dem einzigen Unterschied, dass wir einen neuen Spieler haben: die Bürger.“

Clanchefs und Politiker können sich heute nicht mehr hinter den Syrern verstecken. Sie müssen ihre Taten selbst verantworten und sie sind nun gegenüber ihren Bürgern rechenschaftspflichtig. Das, glaubt Morue, ist das eigentliche neue Element in der libanesischen Politik.

Wie sich die desillusionierte Stimmung im Land auf das Wahlverhalten und vor allem auf die Wahlbeteiligung auswirken wird, ist noch unklar. Doch sowohl eine hohe als auch eine niedrige Wahlbeteiligung setzt die politischen Pferdehändler in Beirut unter Druck: Gehen viele Libanesen zu den Urnen, stehen die gewählten Politiker in ihrer Schuld, über ihre korrupten Schatten zu springen und das Land effektiv zu verwalten. Gehen nur wenige hin, dann besitzen die Volksvertreter mit oder ohne syrische Truppen auch weiterhin keinerlei Legitimität.