Verschwinden und Wiederkommen

Wiederholt hat sich die Künstlerin und Kunstprofessorin Barbara Camilla Tucholski mit ihrer vorpommerschen Heimatkleinstadt beschäftigt. Nun ist „Loitz“ in Schwerin zu sehen

Loitzer Kinder, 1989 gemalt: „Niko mit grüner Hose“ und „Jana mit roten Strümpfen“ im Kabinett des Kunstvereins Foto: Kunstverein Schwerin

Von Frank Keil

Es ist eine biografische Erkundung und zugleich eine erzählerische Untersuchung; „Zeichnung, Malerei, Skulptur, Installation und Künstlerbuch“, so formuliert es der Schweriner Kunstverein: Schlicht „Loitz“ heißt die derzeit dort laufende Ausstellung des, eben, nicht nur zeichnerischen Werks von Barbara Camilla Tucholski. Loitz, das ist eine Kleinstadt im Landkreis Vorpommern-Greifswald, die Peene fließt daran vorbei, die Ostsee ist auch nicht schrecklich weit weg.

Hier ist Barbara Camilla Tucholski geboren worden, am 7. September 1947 um 7 Uhr im einem Zimmer Nummer 7, heißt es. In drei Kapiteln hat die Künstlerin sich dem Ort ihres Aufwachsen gewidmet: „Im Schloss meiner Erinnerung“ von 2007, „Das Glück dieser Erde“, entstanden ein Jahr später, und schließlich „Window Shopping“ im selben Jahr und im Jahr darauf umgesetzt.

Die Eltern führten einen Gasthof mit Fremdenzimmern, „In meines Vaters Haus gibt es viele Zimmer“, ist nun biblisch auf einem Zwischenblatt in Tucholskis Buch vermerkt. Es gab einen Ballsaal als eigentliches Zentrum der Erwachsenenwelt: Am Abend wurde Musik gespielt, Gläser klirrten, Gelächter. „Nachts war der Saal voller Stimmen und morgens früh menschenleer“, schreibt Tucholski. Das muss beeindruckend gewesen sein – und prägend: Ein Kind wacht auf und alles ist wieder still. Als wäre gar nicht gewesen, was doch war.

1953, fünfeinhalb Jahre alt war da das Kind, verließ die Familie heimlich das Haus. Verließ die kleine Stadt, ja: gleich das ganze Land namens DDR. Da war dann wirklich alles weg, am nächsten Tag, in West-Berlin; kam auch nicht wieder, am neuen Ort im Westen; nach etlichen Umzügen landete die Familie irgendwann im Ruhrgebiet. All die Zimmer und der zentrale Saal waren verschwunden, die Verwandten und Nachbarn – und der Hund, vom Kind ganz besonders vermisst.

Barbara Camilla Tucholski studierte Kunst an der Akademie Düsseldorf, 1970; es folgte ein Studium der Kunstgeschichte in Bonn. Noch viel später, 1995, wurde Tucholski dann Professorin für Kunst und ihre Didaktik an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Sie hat ausgestellt, in Wien und Rostock etwa, in Köln und Hamburg: „Arkadien“ oder ,,Pusteblume“ oder auch „Menschen, Tiere und Kanonen“ heißen ihre zeichnerischen Zyklen.

Dazwischen entfaltete sich ihr Loitz-Projekt, denn mitten in ihrer künstlerischen Laufbahn lag 1989, genauer: der 9. November. Da fiel eine Grenze, und im Jahr darauf verschwand gleich ihr ganzes altes Land. Tucholski reiste das erste Mal zurück nach Loitz. Und hatte – auch davon erzählt die Ausstellung – schicksalbestimmende Begegnungen: Ihr Elternhaus stand noch wie einst, rosafarben zeichnete sie es, eingezwängt in eine Häuserreihe seinen Platz behauptend. Und auf der Straße begegnete sie zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Sie sind in etwa so alt, wie sie und ihr Bruder damals gewesen sein mögen, beim Weggehen; Tucholski sprach sie an, malte und zeichnete die beiden. Nun hängen „Niko“ und „Jana“ im dritten Raum der Ausstellung.

Tucholski kehrte auch in ihr Elternhaus zurück, zeichnete vor Ort: die Treppe zum Ballsaal; die siebenarmige Lampe an der Decke; das Bett, verborgen hinter einem Schrank. Die Ecke schließlich, in der ihr Kinderwagen stand und von wo aus sie in die Welt geschaut hat. Nicht, dass sie sich noch daran erinnern dürfte, so klein wie sie damals war; was sie aber tut – nur eben auf zeichnerische Weise, die einzig zählt.

Da, wo um Loitz herum die Felder beginnen, entdeckte die zurückgekehrte Künstlerin eines Tages einen langgezogenen Flachdachbau. Darin: ein langer Flur, von dem, wieder, viele Zimmer abzweigen. Ursprünglich errichtet als Lehrlingsheim für die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, wurde das Gebäude in den späteren 1970er-Jahren einem neuen Zweck zugedacht: Daraus wurde ein Ferienheim für Pferdefreunde, Amateure und Profis.

Zunehmend verwaiste Einkaufsstraße, farbig akzentuiert: „Window Shoppin“ (2008) Foto: Kunstverein Schwerin

Heute steht es leer, einerseits. Andererseits sind da noch die Möbel, die Tapeten, die Bilder, mit Hilfe derer man den Gästen offenbar ein wenig ästhetischen Geschmack beibringen wollte: Kopien von Dürers „Hase“ oder ein „Blumenstrauß“ nach Breughel, dazu jede Menge Pferdemotive. „Zimmer 2, Nordlage, zwei Pferdebilder“ hat Tuchowski auf einem nächsten Zwischenblatt notiert.

Sie machte sich mit dem Bau vertraut, begann vor Ort zu malen und zu zeichnen; stellte in den Zimmern aus. Und sie nahm irgendwann ihre StudentInnen mit, schaffte einen Ort zum gemeinsamen Arbeiten. So privat ihre Familiengeschichte ist, so universell ist das Projekt, den Ort und seine Geschichte(n) zu erfassen. Weshalb der nächste Schritt folgte zurück im Zentrum von Loitz, wo in der einstigen Einkaufsstraße die allermeisten Geschäfte längst leer stehen: Die verlassenen Fensterfronten bestückte Tucholski mit einfarbigen Leinwänden, die Straße hoch und wieder runter.

Mittlerweile hat sie den Landwirtschafts-Lehrlingsheim-Pferdebilder-Flachbau gekauft, seit 2014 residiert darin der Verein „Kultur Gut Loitz“ mit wechselnden Ausstellungen – und Barbara Camilla Tucholski als Vorsitzender. So schließt sich der Kreis aus Herkunft, Weggehen, Wiederkommen und Weitergeben. Im Schweriner Kunstverein, einst selbst Reparaturwerkstatt des städtischen Elektrizitätswerks, ist Tucholskis dreiteiliges Loitz-Projekt nun erstmals zu sehen — in seiner ganzen schönen Vielfalt und überzeugenden Stringenz.

Bis 18. 8., Kunstverein Schwerin; Finissage mit Künstlerinnengespräch um 18 Uhr