Geier im analgetischen Sturzflug

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (198): Die hungrigen Aasfresser gehen in Indien letztlich an Schmerzmitteln für Kühe ein

Die vom Aas leben: hier ein fliegender, nicht sturzbesoffener Andenkondor Foto: imago

Von Helmut Höge

Man kennt vielleicht noch Karl Mays verfilmten Roman „Unter Geiern“. Dabei handelte es sich jedoch um die „Geier-Bande“, die Farmen überfiel. Richtige Geier tun so etwas nicht, sie leben von Aas – und warten geduldig, bis ein im Sterben liegendes Tier oder ein Mensch tot ist. In den Alpen gab es lange Zeit Bartgeier, die man auch Lämmergeier nannte. Ihnen wurde laut des bayerischen Landesbund für Vogel- und Naturschutz (LBV) nachgesagt, „Vieh, Wild und selbst kleine Kinder davonzutragen und zu töten. Die damit verbundene Verfolgung führte dazu, dass die Lämmergeier zu Beginn des 20. Jahrhunderts im gesamten Alpenraum ausgerottet wurden.“

1986 begann man jedoch in Österreich, sie wieder anzusiedeln. „Seit einigen Jahren mehren sich die Einflüge einzelner Bartgeier (die nun nicht mehr Lämmergeier heißen) in den Bayerischen Alpen. Im Frühjahr 2020 wurden sogar zwei Geier gleichzeitig in Bayern gesichtet. Es könnte sich dabei um ein Pärchen gehandelt haben, das gemeinsam in der Nähe von Oberstdorf unterwegs war.“ In diesem Kurort laufen viele alte Leute herum, das ist natürlich für einen Geier interessant. Der LBV hat eine „Machbarkeitsstudie“ gemacht, wonach der nahe Nationalpark Berchtesgarden optimal für eine Wiederansiedlung junger Bartgeier wäre. Zwei Vögel aus dem europäischen Bartgeier-Zuchtnetzwerk, Bavaria und Wally, wurden daraufhin dort in einer Felsnische freigelassen. Per Livecam kann man die beiden Jungvögel nun rund um die Uhr beobachten. Sie sind also nicht wirklich frei, sondern stehen unter elektronischer Dauerbeobachtung – wie früher oder später alle Wildtiere.

Bei den Geiern unterscheidet man Neuweltgeier (wie etwa den Truthahngeier), Altweltgeier (wie den Gänsegeier und den Indiengeier) sowie Gypaetinae (wie den Bartgeier und den Palmgeier). Was die Bartgeier in den Alpen hinter sich haben, blüht derzeit den Indiengeiern – ihre Ausrottung, weil man vernarrt in die heiligen Kühe ist. „Dort wurden in den letzten 20 Jahren die Rinder vermehrt mit dem als Schmerzmittel und Entzündungshemmer bei uns bekannten und umfänglich benutzten Wirkstoff ‚Diclofenac‘ behandelt,“ schreibt der Ökologe Josef Reichholf (in: „Die Bereinigung der Natur“, 2021).

Die indischen Rinder laufen frei herum und müssen sich ihr Futter selbst suchen. Um sie „widerstandsfähiger gegen Infektionskrankheiten zu machen, zumal gegen Verletzungen, die sie sich etwa bei der Futtersuche im dornbuschreichen Halbwüstengebiet im Nordwesten Indiens zuziehen“, verabreicht man ihnen das dort preisgünstige Medikament – auch „vorbeugend“.

Deswegen gibt es ein „großes Geiersterben in Indien“, denn wenn die „heiligen Kühe“ sterben, werden sie von den Geiern gefressen, die das Diclofenac mit aufnehmen und infolge dessen an Niereninsuffizienz eingehen. Innerhalb eines Jahrzehnts starben laut Reichholf „über 90 Prozent der Geier, regional sogar bis zu 98 Prozent“.

In Mumbai leben viele Parsen, Angehörige der persischen Religion des Zarathustrismus, die ihre Toten auf den „Türmen des Schweigens“ von Geiern fressen lassen, was eigentlich behördlich nicht mehr erlaubt ist. Da die Parsen immer weniger werden, gibt es für die Geier auch immer weniger Tote, sodass sie gezwungen sind, sich woanders ihr Fleisch zu suchen. Die Parsen siedelten daraufhin illegal aus Pakistan importierte Geier bei sich an, aber auch diesen reichte das Angebot an Leichen nicht, sodass auch sie sich an toten Kühen schadlos hielten – und ebenfalls starben.

Ist es ein Zufall, dass der Philosoph Nietzsche, der hierzulande Zarathustra bekannt machte, auch ein (frühes) Gedicht „An die Melancholie“ schrieb, das von Geiern handelt, von Alpengeiern, die er nicht verfluchte, im Gegenteil: Der Dichter saß oft grübelnd auf einem Baumstumpf, währenddessen „schrie der Geier begehrlich in das Tal, / er träumt’ vom toten Aas auf totem Pfahl … So sitzend freut’ ich mich des Geier-Flugs, / des Donnerlaufs der rollenden Lawinen.“ In der vorletzten Strophe kommt aber heraus: Der Geier, die Blume, der Schmetterling, der Gebirgsbach: „Dies alles bin ich“ – Nietzsche.

Anders Wilhelm Friedrich Hegel: In seinen Berliner Vorlesungen legte er unter anderem den Mythos von Prometheus aus, der zuvor immer wieder dahingehend korrigiert worden war, dass nicht ein Adler, sondern ein Geier regelmäßig Prometheus, der im Kaukasus an einen Felsen festgeschmiedet war, anfiel, um von seiner Leber zu fressen, was Geier – wie erwähnt – nie tun würden. Hegel hatte es jedoch nicht auf die Geier abgesehen, sondern auf Prometheus, der seiner Meinung nach den Menschen nicht das „Sittliche, Rechtliche“ (die Staatsidee) gebracht habe, sondern „nur die List gelehrt, die Naturdinge zu besiegen und zum Mittel menschlicher Befriedigung zu gebrauchen“. Der nie endende Schmerz, heißt es dazu auf Wikipedia, „den der nagende Geier verursachte, drücke den Umstand aus, dass die bloße Befriedigung natürlicher Bedürfnisse nie zur Sättigung führe, denn das Bedürfnis wachse immer fort wie die Leber des Prometheus“.

Für Karl Marx war Prome­theus dagegen „der vornehmste Heilige und Märtyrer“, den Geier ignorierte er. Anders der Tierfreund Arthur Schopenhauer: Ihm zufolge brachte Prome­theus uns die menschliche Vorsorge, das Planen über den Tag hinaus. Doch dafür müssen wir mit einer ständigen Qual der Sorge büßen, die für Schopenhauer von dem unser prometheisches Fleisch aufhackenden Geier verkörpert wird.

Im bayerischen Kurort Oberstdorf laufen viele alte Leute herum, das ist für Geier interessant

Zurück zur Vernichtung der indischen Geier durch das Schmerzmittel Diclofenac: Sie kam laut Reichholf „zunächst den streunenden Hunden zugute, die in den Zigtausenden alljährlich sterbenden Kühen eine riesige neue Nahrungsmenge serviert bekamen. Aber es profitierte eben auch die Tollwut. Inzwischen fallen auch Geier in Spanien und Marokko dem Medikament zum Opfer.“

In Afrika ist es die Lebensraumzerstörung infolge landwirtschaftlicher Nutzung, der Reduktion des Bestandes großer Säuger, menschliche Verfolgung und Kollisionen mit Stromleitungen, die den Geiern zusetzen: „Sieben der elf afrikanischen Arten sind beinahe ausgelöscht – doch als Aasfresser ist ihre Rolle als natürliche Reinigungskräfte des Ökosystems unverzichtbar“, schreibt der Nabu.

Aus Äthiopien berichtete der Biologe Cord Riechelmann, dass sie dort nicht verfolgt, sondern als Abfallentsorger geschätzt werden, das gilt auch für die Raben, die mit den Geiern „sehr vertraut“ auf dem Dach des „Rimbaud-Hauses in Harar“ zusammensaßen. Der französische Dichter handelte hier in seinen letzten Lebensjahren mit Kaffee und Waffen. Ob er auch Schmerzmittel im Angebot hatte, ist nicht überliefert.