: Okay, Kunst
Annette Hagemanns Gedichte aus dem „Katalog der Kiefermäuler“ lassen das Profane glänzen
Von Frank Schäfer
Annette Hagemann ist in den letzten Jahren bereits mit zwei sehr schönen Lyrikbänden hervorgetreten. Schon die Titel, „Streit mit dem Sonnengott“ und „Sirene des Duschraums“, geben Aufschluss über ihre Poetik, in der Logos und Mythos, Realismus und Phantasmagorie keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig ergänzende, befruchtende Imaginations- und Schreibweisen.
„Gedichte und Notate“ nennt sie ihre aktuellen Texte aus dem Band „Katalog der Kiefermäuler“, erschienen übrigens in Jürgen Brôcans kleiner, aber sehr feiner edition offenes feld, und es ist durchaus nicht leicht zu entscheiden, welche nun eher Notate und welche Gedichte zu nennen wären. Man könnte sie auch alle mit Verweis auf Baudelaires „Le Spleen de Paris“ unter dem Rubrum Prosapoeme subsumieren, die sich mal erzählerischer, mal lyrischer entfalten, mal die Realität detailscharf und wortgewandt abkonterfeien, um dann ihre Grenzen mühelos zu überschreiten und in eine surreale oder magische Traumwelt zu kippen.
Im poetologischen Gedicht „Ausradierung“ beruft sie sich denn auch, sanft ironisch, auf die romantische Poesietradition. Für das Ich sind „tägliches und nächtliches Leben“ ein entschiedener Gegensatz, und es reizt natürlich vor allem die Nacht. Da gibt es Kinder in gelben Schlafanzügen, die „wachen, um ihre Familien zu beschützen“, und plötzlich finden wir uns in einer anachronistischen Schauerballadenszenerie wieder.
„Sie hören, halbwach, zum Beispiel, wie draußen auf / der Dorfstraße der Arzt auf seinem Pferd vorbeiklappert, / im lässigen Rhythmus der Hufeisen, dem Rhythmus von / einem, der über Leben und Tod anderer Leute bestimmt. / Vom Verständnisgrad der nächtlichen Wachen hängt es ab, / was aus diesem Dorf am Ende wird. Werden Wölfe kommen?“ Und dann der prompte Weckruf, die Desillusionierung. „Wir Tagesmenschen jedenfalls haben keine Zeit, um drauf / zu achten. Mit Arbeit, Opium fürs Volk, radieren wir uns aus.“
Die Klage über den Verlust der Poesie angesichts der Anforderungen des Erwerbslebens gehört zum Kernbestand der romantischen Programmatik. Hagemann erneuert diesen Befund. Entsprechend sind die Gedichte dieses Bands oft genug Gegenentwürfe, die beharrlich versuchen, dem Alltäglichen seine Epiphanien abzuringen oder gleich ästhetische Zustände illuminieren.
Annette Hagemann: „Katalog der Kiefermäuler. Gedichte & Notate“. edition offenes feld, Dortmund 2024. 108 Seiten, 19,80 Euro
So widmet sie der Biennale in Venedig 2022 einen eigenen Zyklus, der ihre Observationen und angehängten Assoziationen eloquent zur Sprache bringt. Auch hier zeigt sich die Autorin im augenzwinkernden Einklang mit der romantischen Poetik – schreibt Schlegels „progressive Universalpoesie“ weiter und dreht seinem Kunstpathos zugleich eine lange Nase. „Okay, Kunst. Das Wühlen nach wirklich wichtigen / Büchern in der Bibliothek Babylon. Der ewig schicke / Pixiecut, das ständige Unzufrieden: Das Leben gibt / einfach nicht genug – wann tut es das endlich? Und / jeder Apfel trägt seinen eigenen Aberglauben in sich, / einen Wurm in der Süße, der den Apfel verdaut und dann / mehr weiß, als der Apfel vorher auch nur ahnen konnte.“
Es fällt auf, dass Hagemanns „Katalog der Kiefermäuler“ stärker als ihre vorangegangenen Bände Gelegenheitsgedichte präsentiert, Poeme, denen man ihren Schreibanlass anmerkt. Das können Reisen sein ins sprichwörtlich Blaue, meistens zieht es sie in mediterrane Gefilde, das können aber auch Zoo- oder Museumsbesuche, Träume oder auch das ganz alltägliche Nachrichtenelend sein. Oder eine Erinnerung an den Onkel, den Altertumsexperten, „der im Jemen den Straßenjungs ihre (tags zuvor getöpferten) / antiken Scherben abkaufte – jede einzelne, die ihm angetragen / wurde, bezahlte er, die Jungs der Gegenwart freuten sich, / und er grub die Scherben andernorts in die Erde, als Rätsel / für zukünftige Archäologen“.
Bei Annette Hagemann übernimmt Poesie noch einmal eine ganz elementare Funktion. Sie soll das Grauen des Profanen in Gold tunken. Auch wenn es nur ein wenig Lack ist, den sie da akribisch und kunstfertig aufträgt, glänzen soll es, ein letztes Mal wenigstens.
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