Versagt der Papst politisch?
JA

HEILIGKEIT Zu Ostern spricht Benedikt XVI. das Urbi et Orbi, ein religiöser Großauftritt. Auch politisch macht er Schlagzeilen – zuletzt in Kuba, wo er Freiheit forderte

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Heiner Geißler, 82, ist in der CDU und Autor von „Was würde Jesus heute sagen?“

Der Papst vernachlässigt in seinen Aussagen die politische Dimension des Evangeliums und spiritualisiert das Christsein. Jesus sagt aber ausdrücklich, dass die Nächstenliebe genau so viel Wert hat wie die Gottesliebe, ja, dass sich sogar beides bedingt. Nächstenliebe ist aber kein Gutmenschentum oder reine Barmherzigkeit, sondern die knallharte Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind, und dies geht weltweit nur durch eine Veränderung der Strukturen. Der Papst verkennt, dass nicht der Kommunismus, sondern der Kapitalismus heute die eigentliche Gefahr für Menschheit und Schöpfung bedeutet. Er nennt zwar Geld und Macht als Hindernis, Gott zu finden, aber nicht als Ursache für das Elend auf der Welt. Er kritisiert zwar den Kapitalismus, aber nicht dessen strukturelle Gewalt, die Kriminalität der Investmentbanker und gewalttätige Habgier der Spekulanten. Stattdessen bekämpft er Homosexuelle und Geschiedene, diskriminiert Frauen und Protestanten, diszipliniert große Theologen wie Hans Küng und Leonardo Boff, diskreditiert die Befreiungstheologie und rehabilitiert die Piusbrüder. So wie die Kirche vor 60 Jahren die soziale Marktwirtschaft als geistiges Bündnis zwischen dem Ordoliberalismus und der katholischen Soziallehre mitbegründet hat, so wäre heute der Beitrag der Kirche für eine neue Weltwirtschafts- und Friedensordnung notwendig. Dass sich immer mehr Menschen vom Glauben abwenden, ist eine Folge des grandiosen päpstlichen Missverständnisses des Evangeliums als einer nur auf das Jenseits gerichteten apolitischen Lehre.

Sigrid Grabmeier, 50, ist Sprecherin der Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“

Warum habe ich nur immer den Eindruck, der Papst fasst alles, was mit Politik zu tun hat, mit spitzen Fingern an? Weil er so oft mit weit von sich gestreckten Armen zu sehen ist? Weil er sich so unpolitisch und entweltlicht gibt? Doch, er ist selbst politisch unterwegs, gerade in Kuba hat er es nicht an Deutlichkeit fehlen lassen. Seine Forderungen und Ziele: Freiheit für die katholische Kirche, für ein autokratisches System innerhalb eines anderen autokratischen Systems. Glaubwürdig ist er dabei nicht, denn er selbst hat die Befreiungstheologie diskreditiert und marginalisiert. Die hat sich nicht nur für Freiheit für die Kirche eingesetzt, sondern darüber hinaus Befreiung im Glauben, Befreiung von überlebten Machtstrukturen und Ausbeutung als zentrale christliche Botschaft verkündet.

Francesco Peloso, 45, arbeitet als Journalist im Vatikan für Nachrichtenagenturen

Kann ein Papst handeln, ohne politisch zu sein? Nein. Benedikt XVI. hat das selbst zugegeben in „Licht des Lebens“, wo er auf seine Aussagen über den Islam von 2006 einging, die für Spannungen sorgten. Ein Fehltritt. Dass er Richard Williamsons Exkommunikation wieder aufhob, verärgerte zu Recht jüdische Gläubige. Das Religiöse ist politisch – und umgekehrt. Der Papst hat das noch nicht verstanden.

Jaroslaw Makowski, 38, ist katholischer Theologe und arbeitet in Polen als Publizist

Die Kirche erhielt mit Benedikt XVI. einen Theologen-Papst, keinen Politiker-Papst. Anders als sein Vorgänger Johannes Paul II., den man als Vollblutpolitiker bezeichnen könnte, schätzt der gegenwärtige Papst politische Salons nicht übermäßig. Er meidet die große Politik, seine Mission besteht in der Vertiefung des Glaubens bei den Katholiken. Was fehlt, ist die starke Stimme des Papstes in politischen Fragen: bei der Wirtschaftskrise, dem Arabischen Frühling, den Bewegungen der Empörten und bei Occupy Wall Street.

NEIN

Klaus Mertes, 57, arbeitete Missbrauch am Canisius-Kolleg auf. Heute Leiter in St. Blasien

Ich beame mich zwanzig Jahre nach vorne und blicke zurück auf das Pontifikat von Benedikt XVI. In der Missbrauchsfrage brach er das Schweigen der Kurie und hisste die Fahne der Aufklärung, die unter seinem Vorgänger Papst Johannes Paul II. und Angelo Kardinal Sodano mehr oder weniger eingerollt im Keller gelegen hatte. Er schrieb Bücher, die er ausdrücklich nicht als unfehlbare lehramtliche Äußerungen verstand, und betrat so als Papst die Ebene des Dialogs mit der Theologie. Er erwies erstmalig dem Eros theologische Ehre. In dem Interview-Buch „Licht der Welt“ brachte er zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Kondom-Frage eine Dimension der Güterabwägung ins Spiel. Er spaltete die Traditionalistenbewegung, indem er die Hand zu ihnen ausstreckte und dadurch sichtbar machte, welche Hand geschlossen blieb. Von dem liberalen Flügel der Kirche verlangte er für diesen Schritt große Opfer, aber er schätzte seine Klugheit und Loyalität richtig ein und stärkte ihn dadurch langfristig, sodass die Kirche jetzt kurz davor steht, überfällige Reformthemen endlich auf dem 3. Vatikanischen Konzil ansprechen zu können.

Claudia Weiss, 23, Maschinenbau-Studentin, antwortete online auf die sonntaz-Frage

Nein, der Papst versagt nicht, ganz im Gegenteil sogar: Er findet immer wieder Wege und Mittel, sein menschenfeindliches und demokratiefeindliches System in der politischen Öffentlichkeit zu propagieren. Wenn ihm sogar das angeblich säkulare Deutschland den Plenarsaal überlässt, in dem statt indoktriniert eigentlich nur debattiert werden sollte, dann kann man sich ja ausmalen, welch leichtes Spiel ihm andernorts geboten wird, um zwischen den unterschiedlichen Lebensmodellen für Missverständnisse und Vorurteile zu sorgen. Allein in Deutschland wird der Papst bei seiner Arbeit mit etwa 600 Millionen Euro Steuergeldern jährlich unterstützt. Die Zahlen des Kapitals des Vatikans sind ebenso göttlich und nur (unter)-schätzbar. Hier versagt einzig und allein unser Wirtschafts- und Bildungssystem, da es immer wieder Menschen in die Arme von diesen Seelenfängern treibt. Menschen nämlich, die entweder sonst nicht viel mehr haben oder es einfach nicht besser wissen können. Wenn wir also von einer Politik sprechen, in der Geld und Macht vor Menschlichkeit und Gerechtigkeit kommt, eine, wie sie uns jüngst von so manchen erfolgreichen Politikern demonstriert wurde, ja, dann ist Papst Benedikt XVI. ein ausgezeichneter Politiker und ein Gewinner auf der ganzen Linie.

Dirk Tänzler, 42, ist Bundesvorsitzender des Bundes der Katholischen Jugend

Nein. Denn wer den Papst einen politischen Versager nennt, hat weder von der Kirche noch von der Politik ein besonders differenziertes Bild. Der Papst ist nicht in erster Linie ein Politiker. Er ist Christ und damit auch politisch. Dies kommt in seinen Rollen als Kirchenoberhaupt und Staatschef natürlich besonders zum Ausdruck. Aus seinem Glauben und seinem Selbstverständnis setzt er sich für die Menschen ein, nicht etwa in erster Linie für seine eigenen Interessen oder die seines Staates. Und das tut er auf sehr unterschiedlichen Feldern und mit unterschiedlichen Erfolgen. Zur Todesstrafe, zu globaler Gerechtigkeit bis hin zur Nutzung sozialer Kommunikationsmittel sowie auch in der Kirchenpolitik hat Papst Benedikt XVI. in der Vergangenheit dezidierte Positionen eingenommen. Viele machen sich aber nicht die Mühe, diese Seiten an ihm wahrzunehmen. Als moralische, überparteiliche Instanz und kluger Kopf findet Papst Benedikt bei vielen Regierungen Gehör und Widerspruch. Politischer Erfolg oder Misserfolg sollten nicht auf den Papst beschränkt sein. Alle Christinnen und Christen sollten nämlich politische Menschen sein, die sich aus ihrem Glauben für ein gelingendes Miteinander einsetzen.