„Ich schlafe immer mit Angst“

Seit fast 30 Jahren lebt Fernando Rojas in Berlin, illegal und überwiegend obdachlos. Trotzdem ist er verliebt in die Stadt

„Ich habe einen verborgenen Schlafplatz und erzähle niemandem, wo genau er sich befindet“, sagt Fernando Rojas Foto: Tina Eichner

Interview Clara Zink

taz: Herr Rojas, wann sind Sie nach Berlin gekommen?

Fernando Rojas: Das war am 4. November 1994.

Und warum?

Wegen der wirtschaftlichen Lage in meinem Land. Ich hatte in Peru einen guten Job, aber es gab eine hohe Inflation. Das Geld, das ich verdiente, reichte nicht mehr für ein halbwegs akzeptables Leben. Zumal ich verheiratet war und meine Frau schon ein Kind hatte, als wir heirateten, das war sechs Jahre alt. Wir haben dann beschlossen, dass ich gehe, und Geld nach Hause schicke. Viele Peruaner verließen in dieser Zeit ihren Arbeitsplatz und flüchteten verzweifelt nach Spanien.

Aber Sie wollten nach Berlin?

Ich hatte schon ein Flugticket nach Spanien gekauft, aber jemand sagte mir: „Mach was Gescheiteres, flieg direkt nach Deutschland!“ Viele Peruaner kehrten damals schon wieder aus Spanien zurück, weil sie an der Grenze gar nicht erst hereingelassen wurden.

Ist es Ihnen schwer gefallen, Peru zu verlassen?

Ich habe eine schwierige Beziehung zu meinen Eltern, besonders zu meinem Vater, der ex­trem dominant war. Ich habe als Kind immer wieder die Landkarte von Peru studiert und überlegt: Wo kann ich hingehen? Bloß weg hier!

Was für einen Job hatten Sie in Peru?

Ich habe in einem Krankenhaus gearbeitet, als Krankenpfleger und Assistent. Mit einigen der Ärzte hatte ich ein gutes Verhältnis, manchmal aßen wir zusammen. Aber einige behandelten uns Assistenten, als wären wir ihre persönlichen Diener. Mit diesen Ärzten hatte ich oft Probleme – ich war ein junger, rebellischer Mann, und sie beschwerten sich über mich. Dadurch hatte ich kaum Möglichkeiten aufzusteigen.

Hatten Sie gehofft, in Deutschland einen ähnlichen Job zu finden?

Nein. Ich war fest entschlossen, alles Mögliche zu machen – egal, was. Hauptsache Arbeit.

Wie war das Ankommen in Berlin?

Ich habe sofort begonnen, als Straßenverkäufer zu arbeiten. Ich hatte einen Stand vor der Galeria Kaufhof am Alexan­derplatz. Wir waren eine Gruppe von mehreren Menschen aus Südamerika und haben kleine Souvenirs und Schmuckstücke verkauft, die in Peru hergestellt wurden. Es gab dort auch ein paar Menschen, die das Hütchenspiel angeboten haben. Auch deswegen kam die Polizei oft an unserem Stand vorbei. Damit wurde der Alexanderplatz als Verkaufsort zunehmend unattraktiv.

Also sind Sie woanders hin?

Gemeinsam mit anderen südamerikanischen Verkäufern war ich auf der Suche nach anderen Verkaufsorten, an Bahnhöfen oder in Parks. Wir haben auch in anderen Städten gesucht, in Hamburg oder in Hannover. Wir hatten jedoch Probleme, irgendwo unterzukommen und schliefen auf der Straße. Es war ein Leben voller Leiden. Irgendwann kam die Polizei und sagte: „Sie müssen Deutschland sofort verlassen!“ Sie stempelten mir eine Frist in den Pass.

Wie ging es dann weiter?

Die meisten Peruaner reisten über die damalige Tschechoslowakei aus, weil es leicht war, dort ein- und auszureisen. Ich entschloss mich, nach Dänemark zu fahren. Dort kontrollierte mich aber die Polizei und sah den Stempel in meinem Pass. Sie haben mich dann für drei Wochen ins Gefängnis gesteckt.

Wie sind Sie da wieder herausgekommen?

Ich kam in Kontakt mit einer Frau aus Peru, die mir ein Flugticket kaufte, um von Dänemark nach Peru zurückzufliegen. Die Polizei hat überprüft, ob mein Flugticket echt war, und mich dann freigelassen.

Und dann sind Sie zurück nach Peru geflogen?

Zunächst nicht, ich konnte den Flug im Zeitraum von einem Jahr immer wieder verschieben. So konnte ich noch einige Monate in Kopenhagen bleiben und bin erst mal zurück nach Berlin gefahren. Aber in der Zwischenzeit hatte meine Frau mich verlassen, es gab eine Auseinandersetzung vor Gericht. Also ging ich zurück und blieb ungefähr acht Monate dort.

Wieso sind Sie wieder nach Deutschland zurückgekehrt?

Eine Person, mit der ich zusammengearbeitet hatte, hat mir ein Angebot gemacht: Er hat mein Flugticket nach Deutschland bezahlt, und nach meiner Rückkehr habe ich es bei ihm abgearbeitet. Das muss so 1998 gewesen sein. Ich habe mich über das Angebot sehr gefreut, weil sich die wirtschaftliche Lage in Peru in der Zwischenzeit nicht verbessert hatte und ich arbeitslos war.

Erging es Ihnen diesmal hier besser?

Ich hatte das zunächst gehofft, weil ich meiner Ex-Frau kein Geld mehr schicken musste. Aber hier gab es inzwischen verstärkte Verbote gegen den Straßenverkauf, und die Dinge wurden schlagartig viel schwieriger. Ich habe dann angefangen, in verschiedenen Unternehmen auszuhelfen, zum Beispiel in einer Küche. Eigentlich bin ich immer Menschen begegnet, die mir Arbeit gaben, aber viele haben mich auch ungerecht behandelt. Etwa, mich nach getaner Arbeit zu einem guten Essen einzuladen und das dann vom Lohn abzuziehen. Was kann man dann schon machen?

Wie sieht Ihr Leben heute aus?

Ich mache diese Art von Jobs nicht mehr, weil die Menschen sehr ausbeuterisch sind und andere missbrauchen. Und auch, weil ich ein gewisses Alter erreicht habe. Ich bin 65, körperlich ausgelaugt und erschöpft.

Was machen Sie dann?

Tagsüber gehe ich zu verschiedenen Projekten, zum Beispiel von Kirchen, die kostenloses Essen für bedürftige Menschen ausgeben. Und die restliche Zeit … (überlegt) Es gibt so eine überdachte Galerie vor dem Jobcenter in Neukölln, in der Boddinstraße. Früher habe ich oft dort die Zeit totgeschlagen, weil es kleine Heizkörper gibt, wo man sich ein bisschen aufwärmen kann. Beim Netto kannst du dir etwas zu trinken kaufen, und dann setzt du dich dort hin und trinkst das ganz langsam. So verstreicht dann die Zeit.

Früher, sagen Sie. Wie ist das heute?

In letzter Zeit werden wir auch dort nicht mehr akzeptiert. Normalerweise ist das Leben eines Obdachlosen so, dass er sich den ganzen Tag auf eine Bank setzt, in einem Park zum Beispiel, und dann geht er woanders hin und setzt sich auf eine andere Bank. Und dann geht er Leergut und Flaschen sammeln. Weil es manchmal nicht ausreicht, einmal am Tag in den Essensausgaben zu essen. Ich gehe manchmal auch in die Spätis und miete mir Internet, damit ich mich nicht langweile. Wenn ich das nicht tue, spüre ich, dass der Tag für mich keinen Wert hat.

Gibt es Menschen, die Ihnen nahe stehen?

Ja, schon. Ich habe aber nicht so viel Kontakt mit anderen Obdachlosen, weil viele von ihnen oft Alkohol trinken. Klar, ich trinke auch ein oder zwei Bier. Aber das war’s dann auch.

Wo kommen Sie normalerweise unter?

Im Winter habe ich in einem Hostel geschlafen. Viele Menschen, die nicht gut situiert sind oder deren Papiere nicht in Ordnung sind, verbringen den Winter in solchen Unterkünften, weil die Preise dann niedrig sind. Aber wenn der Frühling und die Touristensaison beginnt, steigen die Preise stark an, und die Leute ziehen sich zurück.

Und wenn Sie nicht im Hostel schlafen?

Eine Zeit lang habe ich bei Studenten von der Freien Universität gewohnt. Und bei einem Ehepaar, einer polnischen Frau und ihrem Ehemann, für etwa anderthalb Jahre. Sie hatten einen kleinen Sohn, dann kam eine Tochter dazu. Als das dritte Kind kam, musste ich raus. Das waren gute Menschen.

Fernando Rojas,

65, in Peru geboren, lebt seit fast 30 Jahren in Deutschland. Die meiste Zeit hat er wohnungslos in Berlin verbracht. Rojas engagiert sich in der Union für Obdachlosenrechte Berlin (UfO) und übt regelmäßig Deutsch in einem Sprachcafé. Weil er sich bis heute illegal in Deutschland aufhält, haben wir seinen Namen geändert.

Und dann?

Ich habe einen verborgenen Schlafplatz, das ist mein Unterschlupf. Ich sage niemandem, wo genau er sich befindet, weil jeder obdachlose Mensch seinen geheimen Schlafplatz hat. Wenn die Kontrollen strenger werden und die Polizei eine Razzia an diesen Orten macht, finden sie uns alle. In der Nacht gehe ich zu meinem Unterschlupf, aber ich muss sehr spät hingehen, um nicht entdeckt zu werden. Ich schlafe dann immer mit Angst, ich kann mich nicht wirklich ausruhen und entspannen. Ich bin praktisch nervenkrank geworden. Ich habe psychische Probleme.

Haben Sie Zugang zu medizinischer Hilfe?

Ja. Es gibt Projekte für obdachlose Menschen, die nicht krankenversichert sind. Ich hatte Krebs und wurde operiert. Das kostete sehr viel, eine Organisation hat das für mich bezahlt. Vor einigen Jahren litt ich unter Blutarmut, kam als Notfall ins Krankenhaus und war 15 Tage lang dort. Ich hatte Probleme, das zu bezahlen. Ich glaube, es waren fast 3.000 Euro. Ich habe mehr oder weniger die Hälfte davon bezahlt, mit Hilfe meiner Familie in Peru. Aber am Ende bekam ich einen Anruf: Man sagte mir, die Ärzte hätten meinen Fall besprochen und beschlossen, den Rest des Geldes nicht mehr von mir zu verlangen. Dafür war ich sehr dankbar.

Würden Sie sagen, dass Berlin Ihr Zuhause ist?

Ich fühle mich in Berlin zu Hause. Peru ist mein erstes Land und Deutschland mein zweites. Ich war anfangs unentschlossen, welche Stadt in Deutschland mir am besten gefällt – ich habe mich auch in Hamburg verliebt, weil es mich an meine Heimatstadt erinnert, eine große Hafenstadt am Pazifik. Aber zurzeit bin in Berlin verliebt.

Warum?

Mir gefallen ganz viele Dinge an Berlin. Natürlich sind nicht alle Bewohner nach meinem Geschmack. Aber ich mag es sehr, wenn ich intelligente Menschen treffe und von ihnen lernen kann. Ich merke, dass ich alles, was ich in Peru versäumt habe zu lernen, hier in Berlin immer noch von intelligenten Menschen lernen kann.

Übersetzung: Mirela Kulin