Nadine Conti
Provinzhauptstadt
: Der Betrüger ist immer der Gärtner

Der Nachbar fuchtelt mit seinem Stock einem Kleinlaster hinterher: „Da!“, schnauft er. „Auch so Kleptomanen!“ „Die vom Grünflächenamt?“, frage ich. „Ja! Haste auch gelesen, ‚ne?“ Vor ein paar Tagen hatte die Hannoversche Allgemeine Zeitung berichtet, dass es beim Grünflächenamt der Stadt Hannover offenbar ein Problem gibt: An mehreren Standorten sollen sich Mitarbeiter großzügig an Tankkarten, Fahrzeugen, Gerätschaften und Materialien bedient haben. Das gab dann wohl eine Krisensitzung auf Leitungsebene, in der über das weitere Vorgehen und bessere Kontrollen beratschlagt wurde. Letztere wiederum finden nun einzelne Mitarbeiter unangenehm, die sich selbst gar nichts zuschulden kommen lassen haben. Und zwar so unangenehm, dass sie sich – so steht es jedenfalls in dem Bericht – mit dem Protokoll dieser Krisensitzung an die Zeitung gewandt und die Sache damit erst öffentlich gemacht haben. Eine zumindest mal interessante Strategie.

Die SPD-Ratsfraktion hat dazu jedenfalls gleich eine Pressemitteilung rausgeschoben, in der sie fordert, die – höchstwahrscheinlich auch strafrechtlich relevanten – Vorwürfe konsequent aufzuklären, aber bitte ohne städtische Beschäftigte unter Generalverdacht zu stellen. Aber in der Partei weiß man natürlich auch ziemlich genau, wie sich das anfühlt. Ohne die Selbstbedienungsmentalität unter gewissen Spitzenkräften würde man ja vielleicht immer noch den Oberbürgermeister stellen.

Jetzt sind ja noch gar nicht genug Details bekannt, um sich ein klares Bild zu machen, das wird wohl noch ein Weilchen dauern. Was ich faszinierend finde: Es gibt solche Geschichten ja tausendfach. Bauhöfe und Grünflächenämter sind dafür anfällig, aber mit dem Problem längst nicht allein. Das ist doch organisationspsychologisch hochinteressant. Was braucht es eigentlich um so ein System zum Kippen zu bringen? Es fängt ja meist ganz harmlos an: Klar, kannst du dir den Laster für den Umzug deiner Tochter ausleihen. Oder den Rüttler, um daheim die Garagenauffahrt zu machen. Steht doch am Wochenende eh nur herum, das Zeug. Und irgendwann zieht es dann Kreise. Aus Gefälligkeiten für Nachbarn, Freunde und Bekannte wird ein kleiner Nebenerwerb, aus Tätigkeiten am Wochenende welche, die Arbeitszeit in Anspruch nehmen, aus den Bestellungen für den Betrieb fallen ein paar in den eigenen Kofferraum …

Irgendwann kommt immer mindestens einer, der den Hals nie voll kriegt. Merkt doch keiner, machen die anderen doch auch, tut doch keinem weh, dieser Laden hat es ja. Und dann nimmt das Ganze Ausmaße an, die zu Krisensitzungen führen. Und zu umständlichen Kontrollmaßnahmen, die Dutzende von Arbeitsstunden kosten. Wie viele Gierschlünde braucht man, bis es kippt? Wie muss ein Laden ticken, dass die soziale Kontrolle versagt, dass Kollegen sich gegenseitig hochschaukeln, statt sich im Zaum zu halten? Oder frage ich mich das bloß, weil es in meinem Job allenfalls Kugelschreiber und Druckerpapier zu klauen gibt, die Versuchung also nicht so wahnsinnig groß ist?

Mein Nachbar hat allerdings noch ein anderes Problem. In dem durchgestochenen Protokoll ist von einer „Kronzeugenregelung“ die Rede. „Mann, das ist das Grünflächenamt und nicht die Mafia!“, echauffiert er sich, „das ist doch deren verdammte Pflicht, das anzuzeigen, wenn das nicht korrekt läuft!“

Wie viele Gierschlünde braucht man, damit das System kippt?

Mir ist da ja etwas anderes sauer aufgestoßen. Da wird über eine neue Aufsichtsebene „in Anlehnung an ‚Blockwarte’der neuen Bundesländer“ nachgedacht, heißt es in dem Text. Das soll wohl ein Zitat aus dem Sitzungsprotokoll sein. Rätselhaft. Kommen Blockwarte nicht eigentlich aus der Nazi-Zeit? Oder ist hier gar nicht die DDR gemeint, sondern eher die nicht mehr ganz so neuen Bundesländer, in die wir die Alt-Nazis verklappt haben? Seltsam alles. Da wird wohl noch eine Menge aufzuklären sein.