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orte des wissensSchatztruhe, gar nicht staubig

Im Landesarchiv Schleswig-Holstein liegen nicht nur 950 Jahre alte Akten, sondern auch Briefe aus der Todeszelle und hochbrisante Entnazifizierungsakten

Es gibt Arbeitsplätze, die haben nichts Besonderes. Nicht fachlich, nicht baulich, nicht atmosphärisch. Und es gibt Arbeitsplätze wie das Landesarchiv Schleswig-Holstein. Wer Schleswig besucht, sollte diesen Ort nicht auslassen. Es ist ein Ort, der Geschichte bewahrt, Geschichte ausstrahlt. Sein Haupthaus, das barocke Prinzen­pa­lais, ist über 300 Jahre alt, seine älteste Archivalie rund 950. Seine 10.000 Quadratmeter Magazinfläche verbrauchen nicht mehr Energie als eine Dop­pelhaushälfte – Nachhaltigkeit, die schon Delegationen aus Frankreich und China ins Staunen versetzte. In seinem Park, vor den Fenstern des Lesesaals, grasen zuweilen Rehe.

Archivar und Historiker Rainer Hering, zugleich Professor für Neuere Geschichte und Archivwissenschaft an der Universität Hamburg, leitet das Archiv seit 18 Jahren. „Es arbeitet sich gut hier“, sagt er der taz. „Das ist schon ziemlich idyllisch.“ Was das Archiv verwahrt, vom Foto bis zur Landkarte, vom Grundbuch bis zum Kabinettsprotokoll, vom Plakat bis zum Brief, vom Tonträger bis zur Postkarte, von der Zeichnung bis zum Dokumentarfilm, von der Firmenkorrespondenz bis zur Verwaltungsakte, ist jedoch oft alles andere als idyllisch.

Kassiber lagern hier, die Theodor Steltzer, später Minister­präsident von Schleswig-Holstein, im Gefängnis schrieb, auf Zeitungsränder, als er, nach Stauffenbergs Attentat auf Hitler, zum Tode verurteilt war. „Für mich sind das die bewegendsten Stücke hier bei uns“, sagt Hering.

Auch Entnazifizierungsakten trotzen hier dem Vergessen. „Jahrzehntelang lagen die auf dem Dachboden, streng unter Verschluss“, wundert sich Hering. „Keiner durfte da dran. Selbst Anforderungen durch Gerichte wurden zurückgewiesen.“ Die Rückschau auf die NS-Zeit ist auch für das 1870 gegründete Archiv selbst eine Mahnung; seine Willfährigkeit gegenüber dem NS-Staatsterror war ähnlich groß wie bei anderen Archiven. „Das zeigt, wie wichtig es ist, dass wir uns auch mit unser eigenen Geschichte befassen“, sagt Hering.

Die Arbeit seiner rund 50 Mitarbeitenden sieht Hering auch als Arbeit für die Demokratie. „Indem wir als staatliches Archiv alle Zeugnisse des Verwaltungshandelns bewahren, sorgen wir dafür, dass jede Entscheidung kon­trollierbar ist, rekonstruiert werden kann. Das stärkt das Vertrauen in die Demokratie.“ Das Archiv, als Ort der Fakten, versteht er als Mittel gegen die Flut der Fake News. „Zugleich dient, was wir hier bewahren, der Stiftung und Stärkung lokaler Identität“, sagt Hering. Das sei wichtig in Zeiten der Globalisierung. „Wenn Menschen sich in ihrer Region verankert fühlen, sich für sie interessieren und engagieren, wählen sie weniger populistische Parteien.“

Das idyllische gelegene Archiv, als Ort der Fakten, versteht sich als Bastion gegen die Flut der Fake News und arbeitet an der Stärkung von Demokratie und Identität

Dass ein Archiv, das in einem Herrenhaus untergebracht ist, Schwellenängste erzeugen kann, ist Hering bewusst. „Umso mehr muss uns daran liegen, uns der Allgemeinheit zu öffnen“, sagt er. Und das geschieht. Durch Ausstellungen, Vorträge, Führungen, Tage der Offenen Tür, Workshops. Familien- und Heimatforscher besuchen das Archiv, viele Schulklassen.

Und dann erzählt Hering. Dass er eigentlich viel mehr Personal bräuchte, für Magazin, Restaurierung und Verwaltung: „Wir könnten viel mehr schaffen!“ Dass es ein großer Trugschluss ist, dass Archivierung im Zeitalter der Digitalisierung einfacher und billiger wird: „Was digital gespeichert worden ist, muss ja nach fünf Jahren auf ein neues Speichermedium migriert werden. Und die Sicherung gegen Hacking ist ungeheuer aufwändig.“ Dass die Annahme, ein Archiv sei staubig, Unsinn ist. „Ich habe mit 14 Jahren das erste Mal in einem Archiv gestanden“, erzählt Rainer Hering. „Und wie man sieht, hatte das lebenslange Folgen.“Harff-Peter Schönherr

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