Wider alle Widerstände

Radikal diesseitig: Eine lehrreiche Ausstellung im Jüdischen Museum in Wien dokumentiert unter dem Titel „Who Cares?“ jüdische Antworten auf Leid und Not

Gepeinigt zwischen Himmel und Erde: Gemälde „Armageddon“ (2013–2017) des israelischen Malers Sasha Okun Foto: © Courtesy of Michael Marx of Artso Limited

Von Tania Martini

Ein bekannter jüdischer Witz geht so: Ein Jude wird Präsident der USA und lädt seine Mutter ins Weiße Haus ein. Nach zahlreichen Einwänden und nachdem der Sohn ihr versichert, dass es koschere Küche gibt, stimmt sie schließlich einem Besuch zu. Als kurz darauf eine Freundin anruft, sagt ihr die Mutter des Präsidenten: „Ich gehe mit meinem Sohn essen.“ – „Mit dem Arzt?“, fragt die Freundin. „Nein, mit dem anderen.“

Das ist nur einer der zahlreichen jüdischen Witze, die auf die große Bedeutung des Arztberufs und der Medizin im Judentum verweisen.

Als die Christen das Einwirken auf den Körper noch mit Hexerei in Verbindung brachten, war die jüdische Heilkunde, die antike Medizin aufgreifend und als deren Vermittlerin wirkend, schon weit entwickelt. Bereits im Mittelalter war der Anteil jüdischer Ärzte überdurchschnittlich hoch, obwohl Juden lange Zeit vom Medizinstudium ausgeschlossen waren, nur an einzelnen italienischen Universitäten studieren konnten oder privat ausgebildet werden mussten.

Der berühmteste jüdische Arzt und Philosoph des Mittelalters ist Maimonides. Nach seiner Vertreibung aus Andalusien lebte er ab 1148 in Ägypten und verfasste in arabischer Sprache Schriften über Medizin. Zwischen Diskriminierung, Ghettoisierung, Vertreibung und punktueller Teilhabe entwickelte sich ein medizinisches Wissen, das jüdische Ärzte immer wieder in wichtige Positionen bei Sultanen, Kaisern oder Päpsten brachte und zum Überleben der verfolgten jüdischen Gemeinschaft beitrug.

Zu thematisieren, wie elementar jüdische Wis­sen­schaft­le­r an medizinischem Fortschritt beteiligt waren, ist Anliegen einer großen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, die allerdings nicht bloß die Medizin fokussiert, sondern unter dem Titel „Who Cares?“ jüdische Antworten auf Leid und Not dokumentieren will – psychische und soziale Hilfeleistungen eingeschlossen. Das ermöglicht, auch die Geschichte von Müttern, Hebammen, Pfle­ge­rn und Für­sor­ge­rin­nen in den Blick zu nehmen. Wien ist der Hauptort dieser Dokumentation, im Fin de Siècle war die Stadt ein Zentrum wissenschaftlicher Innovation.

Entlang von mehr als 300 Objekten ist hier lehrreich ein Teil jüdischer Geschichte vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart dokumentiert. Zahlreiche Personenfahnen machen mit bedeutenden Ärzten, Fürsorgerinnen, Hygienikern, Analytikerinnen und Institutionen bekannt. Das Arzt­di­plom der Jüdin Virdimura von 1376, die als Ärztin praktizieren durfte, nachdem sie die Ärzte Königs Friedrich III. von ihrem Können überzeugt hatte, ist hier ebenso zu sehen wie frühe Elektroschockgeräte, Zwangsjacken oder ein Modell des Wiener Narrenturms, der ersten psy­chia­tri­schen Klinik Kontinental­euro­pas, die 1784 von Joseph II. in Auftrag gegeben wurde und in der viele elendig starben.

Die Ausstellung folgt keiner Systematik, statt von strukturellen Ursachen geht sie von zwei jüdischen Geboten aus.

Das Tikun Olam – es steht für die Verbesserung oder Vervollkommnung der Welt – und die Zedaka – die Pflicht, soziale Gerechtigkeit herzustellen – sind die beiden Gebote, aus denen heraus die Entwicklung hier gedacht werden soll. Das Judentum ist stark auf das Diesseits gerichtet, Leben zu erhalten und das Gelingen eines würdigen, gesunden und gerechten Lebens sind grundlegend. Allein die Zahl der Gebote in der Tora gibt einen Hinweis darauf: Ihre Anzahl entspricht mit 248 der Zahl der Knochen im menschlichen Körper. Wie wichtig das Ti­kun Olam auch gegenwärtig im Judentum ist, kann man zum Beispiel an jüdischen Schulen erleben; dort leitet das moralische Gebot zu sozialer Aktivität an, die Natur und Tierwelt eingeschlossen. Auch das Gebot „Liebe deinen Nächsten“ war in der Tora zentral, lange bevor das Neue Testament es predigte.

Diese Gebote mögen hier und da den Impuls für einige der jüdischen Hilfsorganisationen gegeben haben. Jedoch drängt sich die Frage auf, ob nicht viel eher aufgezwungenes Elend, Berufsverbote und Vertreibungen den medizinischen und sozialen Fortschritt sowie die Selbsthilfe notwendig machten.

Wie stark wiederum die Verpflichtung zur Wohltätigkeit im Judentum tatsächlich ist, zeigt in der Ausstellung eine Zedaka-Wertmarke aus Blei. Sie wurde im Polen des 18. Jahrhunderts an Arme verteilt und konnte gegen die kleinste Münze eingetauscht werden. So war es auch den Ärmsten möglich, ihrer Spendenpflicht nachzukommen.

1867 gewährte das Habsburger Reich seinen Untertanen freies Ansiedlungsrecht, und die Industrialisierung lockte viele nach Wien. Dass es den Juden mit am schlechtesten ging, zeigen einige Fotos aus der Wiener Vorstadt. Die religiösen Reinheitsgesetze, die das Judentum bereits seit der Antike kennt und die viele Aspekte der medizinischen öffentlichen Hygiene des 19. Jahrhunderts vorwegnahmen, waren unter solchen Lebensbedingungen lebenserhaltend. Eine Kundmachung aus Czernowitz von 1915 zeigt, dass im Kampf gegen die Cholera bereits damals nur geimpfte Personen die Synagoge betreten durften. All das hat jedoch Antisemiten freilich nicht davon abgehalten, immer wieder die Lüge über Juden als Überträger von Krankheiten zu verbreiten.

Beeindruckend ist, wie die Ausstellung die Geschichte der Frauen aufgreift. „Die neue Zeit“ ist der Titel einer Zeitschrift, auf deren Cover eine Frau in Ketten dargestellt ist. Der „Bund für Geburtenregelung“, der sich bereits in der Zwischenkriegszeit für das Recht auf Abtreibung einsetzte, hatte sie herausgegeben und Vorträge organisiert, die den „Mutterschaftszwang“ thematisierten. Die sehr düstere Radierung „Tod, Frau und Kind“ (1910) von Käthe Kollwitz unterstreicht das Furchterregende, das Mutterschaft mit sich bringen kann.

Anrührend: Sigmund Freuds Arzttasche Foto: Günter König/Sigmund Freud Privat­stiftung

1938 wurden alle jüdischen Hilfsvereine aufgelöst, jüdischen Ärzten die Approbation entzogen, einige konnten fliehen, nicht wenige nach Schanghai, andere konnten nur noch notdürftig Mithäftlinge in den Todeslagern versorgen, bevor sie selbst ermordet wurden. Im selben Jahr verlässt Sigmund Freud Wien und geht nach London. Freuds Hut und Tasche, sonst in dessen ehemaliger Wohnung in der Wiener Berggasse zu sehen, zeugen auch hier von einer untergegangen Welt. Auch Berta Pappenheim, Freuds berühmte Hysterie-Patientin mit dem Pseudonym Anna O., ist in der Schau präsent. Als Feministin gründete sie den Jüdischen Frauenbund und ein Mädchenwohnheim.

Was Nationalsozialisten im Namen des medizinischen Fortschritts Verfolgten angetan haben, ist bekannt. Über die Kontinuität sadistischer Ärzte in hohen Ämtern auch nach dem Zweiten Krieg wird noch immer zu wenig gesprochen.

Am Ende der Ausstellung hätte man gern mehr über die Organisierung der Alija und die Displaced-Persons-Lager nach 1945 erfahren. Auch die Tatsache, dass die Säuglingssterblichkeit unter muslimischen Kindern in Palästina um die Hälfte sank, als sich mit der jüdischen Einwanderung die Hy­giene­verhältnisse und die medizinische Versorgung in der Region verbesserten, wäre dokumentationswürdig gewesen. Stattdessen schließt die Ausstellung mit allgemeinen Appellen für eine Zukunft des Miteinanders statt des Gegeneinanders. Eine pädagogische Überfrachtung, die am Ende dieser reichen und affizierenden Schau überflüssig ist.

Jüdisches Museum Wien, bis 1. 9., Katalog 29,90 Euro (Residenz Verlag)