Der Geist der Adoleszenz

Anarchismus und Subkultur, wie sie wohl nur die USA hervorgebracht haben: Dem Künstler Mike Kelley ist zwölf Jahre nach seinem Tod eine sehr sehenswerte Retrospektive in Düsseldorf gewidmet

Paranormal: Mike Kelley, „Ectoplasm Photograph 7“, 1978/2009 Foto: © Mike Kelley Foundation for the Arts/VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Von Sophie Jung

Es gibt viele Mike Kelleys. Man weiß manchmal gar nicht, welcher von ihnen bis heute so viel Einfluss auf die Gegenwartskunst gehabt haben soll. So nämlich wird die Rolle des US-amerikanischen Konzept- und Performancekünstlers, der sich 2012 im Alter von 57 Jahren in Los Angeles vermutlich das Leben nahm, in der Kunstkritik meist gewertet. Auch in der jetzigen, großen Mike-Kelley-Retrospektive im Düsseldorfer K21. Dort wird nun in Deutschland zum ersten Mal nach seinem Tod sein opulentes, experimentelles, verstörendes Werk gezeigt.

Da ist der angehende Künstler Kelley aus einfachen Verhältnissen, aufgewachsen in einem Vorort von Detroit, mit seinen trashig wirkenden, aber schon in den 1970er Jahren präzise durchdachten DIY-Performances zu sehen.

Da ist der okkulte Mike Kelley, der den strengen Katholizismus seiner Familie in psychedelischen Selbstinszenierungen verarbeitete. Ektoplasma scheint ihm in seiner Poltergeist-Fotoserie von 1978 aus Nase und Ohren zu quellen, als sei er von einem übersinnlichen Wesen in Beschlag genommen worden. Doch der schäumende Stoff besteht nur aus Baumwolle.

Und da ist Kelley, der Punk, der als Jugendlicher in der linksradikalen White Panther Party aktiv war und viele Jahre mit dem bildenden Künstler Tony Oursler zusammen die Band The Poetics betrieb. Seine wohl bekannteste Bildserie „Ahh… Youth!“ von 1991 schaffte es auf ein Plattencover von Sonic Youth.

„Ahh… Youth“ ist ein Initialwerk in der Ausstellung. Es sind Fahndungsfotos von selbst angefertigten Kuscheltieren mit niedlich-schrägen Gesichtern aus Knöpfen und Nähten, vom Gebrauch ihrer vormaligen Be­sit­ze­r:in­nen ganz lädiert. Diese, vermutlich von Verwandten in mühevoller Handarbeit genähten Stofftiere, die Kelley von Flohmärkten oder Müllhalden aufsammelte, arrangierte er auch dicht auf großformatigen Tableaus an der Wand und baute damit die gebündelte Liebe der Handwerksobjekte zur emotionalen Bürde auf, das beschenkte Kind wurde bei ihm vielmehr zu einem durch Liebe belasteten Kind.

Das Publikum las damals aus Kelleys Stofftier-Sammlung eine Geschichte des Missbrauchs in der Kindheit des Künstlers selbst. Kelley reagierte auf dieses überraschende Narrativ, wie er es in seiner Kunst so häufig machte: Für seinen „Educational Complex“ rekonstruierte er Orte seiner Kindheit und Jugend, ließ Wohnhaus, Schule und Kunsthochschulen als kleine Architekturmodelle maßstabsgetreu nachbauen und zu einem Sinnbild des Heranwachsens in den USA der 1960er bis 1980er werden. Nur fehlen ihnen jene Räume, an die sich Kelley nicht erinnern konnte. Offenbarung seines Traumas? Vielmehr sind die Modelle die Verballhornung einer Populärpsychologie, die in den späten 1980er als False-Memory-Syndrom die allgemeine Stimmung in den USA beflügelte. Der „Educational Complex“ fügt in der Ausstellung die verschiedenen Kelleys zusammen. Denn man versteht: Bei diesem Künstler ist alles ein Missverständnis. Konzept, theoretisches Konstrukt oder Glaube werden in seiner Kunst zum Irrtum.

Erinnern an den zu früh verstorbenen Mike Kelley will man sich in Düsseldorf mit seinem letzten, nie enden wollenden Performanceprojekt: „Day is Done“ ist eine reizüberflutende multimediale Musicalshow mit bühnengroßen Videoprojektionen, auf denen Lai­en­dar­stel­le­r:in­nen ein Krippenspiel, eine Peep-Show oder den „Zauberer von Oz“ inszenieren. Dazu gibt es eine Lichterorgel, rotierende Vorhänge und Geisterbahn-Gekreische aus dem Lautsprecher. Hier erwachen wieder die Geister der US-amerikanischen High-School-Jahre. Kelley hat die vermengten Bühnenschnipsel aus alten Schuljahrbüchern rekonstruiert und zu einem fiktiven Rummelplatz einer kollektiven US-amerikanischen Adoleszenz gemacht. Die hat bei diesem Künstler einen tiefen Anarchismus hervorgebracht. „Ein Jugendlicher ist ein dyfunktionaler Erwachsener und Kunst, was mich betrifft, eine dysfunktionale Realität“, schrieb Kelley einmal.

„Mike Kelley. Ghost and Spirit“: K21 Düsseldorf, bis 8. September. Katalog (Hirmer Verlag): 45 Euro