Rad als nachhaltige Verkehrsmobilität: Schulbus auf zwei Rädern

Jeden Freitag fahren Grund­schü­le­r*in­nen mit erwachsenen Begleitpersonen mit dem Fahrrad zur Schule. Ziel des Bicibus: Kinder von klein auf für nachhaltige Verkehrsmittel begeistern.

Menschen auf Fahrrädern

Der Bicibus bietet einen sicheren Rahmen für Kinder, um Fahrradfahren zu üben und sich an den Straßenverkehr zu gewöhnen Foto: Stefanie Loos

Berlin taz | Freitag früh um halb acht: Eine kleine Gruppe aus acht Grund­schü­le­r*in­nen und fünf Erwachsenen fährt gemächlich durch die kleinen Gassen von Bohnsdorf, einem Ortsteil in Treptow-Köpenick im Südwesten Berlins. Da wenig Verkehr ist, können sie gemütlich nebeneinander statt hintereinander fahren. Zwei Mädchen besprechen ihre Pläne für das Wochenende, ein anderes diskutiert mit ihrem Vater, ob sie noch Eis essen gehen. An der nächsten Straßenecke wartet ein Schüler. Der Tornister sitzt schon auf dem Rücken, der Helm ordentlich auf dem Kopf. Der Junge tritt in die Pedale und reiht sich in die fahrende Gruppe ein.

Bei der Gruppe handelt es sich um die Initiative Bicibus, eine Art Fahrrad-Bus. Jeden Freitag fahren Grund­schü­le­r*in­nen mit erwachsenen Begleitpersonen nach festgelegtem Fahrplan mit dem Fahrrad zur Schule. Ihr Ziel: Kinder von klein auf für nachhaltige Verkehrsmittel begeistern. Entstanden ist die Idee 2021 in Barcelona. Daher auch der Name Bicibus. Abgeleitet von Bicicletta – Spanisch für Fahrrad – und Bus für einen geschlossenen Verband aus 16 oder mehr Verkehrsteilnehmenden gemäß der Straßenverkehrsordnung.

Mittlerweile gibt es nach Angaben von Bicibus 470 Fahrradbusse weltweit, die jede Woche etwa 32.000 Kinder zur Schule bringen. In Deutschland gibt es das Projekt in 24 Städten, darunter seit Mai 2023 in Berlin. Gegründet hat die Berliner Gruppe Moritz Müller. Der zweifache Familienvater hatte assistiert, als sein Sohn in der vierten Klasse die Fahrradprüfung ablegte. „Viele Kinder waren auf dem Fahrrad sehr wackelig unterwegs“, erzählt der 42-Jährige.

Seine Beobachtungen decken sich mit Untersuchungen in allen Regionen Deutschlands. Josef Weiß von der Deutschen Verkehrswacht bestätigt beispielsweise, dass immer mehr Kinder Probleme beim Losfahren, Spurhalten und Bremsen haben. Er erklärt sich die Entwicklung so: „Aufgrund veränderter Freizeit- und Mediengewohnheiten bewegen sich Kinder immer weniger, die motorischen Defizite nehmen zu.“ Aus Angst vor Unfällen würden sie eher gefahren, als dass sie zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad eigene Erfahrungen im Straßenverkehr sammeln können. „Besonders in größeren Städten haben Kinder immer weniger Gelegenheit, Rad zu fahren. Zudem ist Radfahren nicht mehr überall eine Selbstverständlichkeit.“

Dass Kinder weniger Fahrrad fahren, ist wiederum ein Problem für die Verkehrswende. Denn Fuß- und Radverkehr sind die umweltfreundlichsten Verkehrsformen und damit gerade in den Städten ein wichtiger Teil nachhaltiger Mobilität. Weiß vermutet, dass Kinder, die immer mit dem Auto gefahren werden, später eher dazu neigen, selbst öfter das Auto zu benutzen.

Zum einen bietet der Bicibus einen sicheren Rahmen, um Fahrradfahren zu üben und sich an den Straßenverkehr zu gewöhnen. Die Berliner Gruppe muss beispielsweise einen Teil der Strecke auf einer etwas stärker befahrenen Straße zurücklegen, der Schulzendorfer Straße. Hier fahren die Kinder in einer langen Reihe hintereinander am Fahrbahnrand, die Erwachsenen vor, neben und hinter den Kindern, um ihre Schützlinge abzuschirmen.

Da die Gruppe auf diesem letzten Stück der gemeinsamen Strecke groß ist, dürfen sie eine ganze Fahrbahn blockieren. Die Au­to­fah­re­r*in­nen respektieren das: Autos hinter der Gruppe versuchen nicht, zu überholen, Autos auf der Gegenspur halten sogar an und lassen die Gruppe vorbeifahren. Auch die Kinder wissen, dass sie hier vorsichtig sein müssen. Sie unterhalten sich nicht mehr, sondern fahren konzentriert hintereinander her.

Gruppengröße und das Alter der Kinder erhöht die Hemmschwelle, die Kinder zu überholen. Die Initiative bietet damit einen sicheren Rahmen, um auch das Fahren auf der Straße und den Umgang mit Autos zu üben. Auch der Automobilclub ADAC rät auf seiner Webseite, dass Kinder den Schulweg selbstständig absolvieren sollten: „Kinder sollten früh und altersgerecht an den Straßenverkehr herangeführt werden und den Schulweg selbstständig absolvieren“, heißt es. „Risikobewusstsein und Verständnis für den Straßenverkehr entwickeln sie allerdings nicht, wenn sie von den Eltern regelmäßig mit dem Auto zur Schule gebracht werden“, so der Auto-Lobbyverein.

Ein Mann steht gegenüber einem Kind mit Fahrradhelm

Moritz Müller, zweifacher Vater, ist der Gründer der Berliner-Bicibus-Gruppe und begleitet Schü­le­r*in­nen auf dem Weg zur Schule Foto: Stefanie Loos

Um eine sichere Fahrt zu gewährleisten, gibt es für die Kinder Mindestanforderungen: Sie müssen ohne Wellen geradeaus und sicher Kurven fahren können. Müller berichtet, dass die regelmäßige Teilnahme beim Bicibus schnell Wirkung zeige: Man merke schon nach wenigen Wochen, dass die Kinder das Fahrrad besser im Griff haben und die Verkehrsregeln beherrschen.

Mittlerweile sind die Kinder sicher an der Schule angekommen. Die Startgruppe hat 3,3 Kilometer zurückgelegt und war 25 Minuten unterwegs. Aus allen Richtungen strömen Schü­le­r*in­nen zu Fuß oder mit Fahrrädern Richtung Schuleingang. Dort stehen schon einige Kinder mit Smartphone in der Hand und warten. Die Fahrräder werden schnell angeschlossen und Müller verteilt noch Sticker für die nächste Kidical Mass.

An der Kreuzung vor der Schule und in den umliegenden Einfahrten stauen sich derweil die Autos, weil Eltern ihre Kinder aussteigen lassen. Elterntaxis sind auch hier ein Problem, wenn auch nicht so stark wie an manchen anderen Schulen, berichtet Müller. Manchmal sanktioniere die Polizei oder das Ordnungsamt das Verhalten der Eltern. Danach würde es zumindest kurzzeitig besser. „Solange es nicht schmerzhaft ist, rührt sich keiner“, sagt Müller.

Bei einer ADAC-Umfrage aus dem vergangenen Jahr stimmten 59 Prozent der Eltern zu, dass durch Elterntaxis gefährliche Verkehrssituationen entstehen. Darunter auch relativ viele Eltern, die ihre Kinder selbst mit dem Auto zur Schule bringen. Bisher kann der Bicibus Elterntaxis jedoch kaum ersetzen: Er erreicht eher Familien, in denen die Kinder sonst alleine zur Schule fahren, zu Fuß gehen oder mit dem Bus fahren. „Wer selten mit dem Fahrrad fährt, hat Angst um die Sicherheit seiner Kinder, wenn sie mit dem Fahrrad fahren“, erklärt sich Müller das Verhalten der autofahrenden Eltern.

Dabei hat der Bicibus gegenüber dem Elterntaxi noch weitere Vorteile: Die Kinder bewegen sich mehr, sind an der frischen Luft, erleben mehr Eigenverantwortung und entwickeln dadurch mehr Selbstvertrauen. Außerdem verbringen sie mehr Zeit mit Gleichaltrigen. Daraus entwickeln sich zwar nicht unbedingt Freundschaften, erzählt Müller, aber die Kinder würden sich zumindest klassenübergreifend kennenlernen. Oder wie Marcel Schulz-Uteß, einer der begleitenden Väter, zusammenfasst: „Die Kinder haben mit Bicibus mehr Kindheit.“

Damit die Eltern sichergehen können, dass die Kinder auch pünktlich und sicher ankommen, können sie die Fahrt der Gruppe live auf der Webseite verfolgen. Müller lässt dafür sein Handy trecken. Die Berliner Gruppe versucht auch Eltern zu erreichen, denen es zu gefährlich ist, ihr Kind auf der Straße fahren zu lassen. Beim diesjährigen Stadtradeln ist die Gruppe jeden Morgen gefahren. Die erste und letzte Fahrt hat Müller als Versammlung angemeldet, sodass die ganze Straße für die Nachwuchs-Fahrradfahrer*innen abgesperrt war und die Gruppe von Polizeiautos geschützt wurde. An der letzten Fahrt haben insgesamt 145 Kinder und Erwachsene teilgenommen. Viele Eltern hat das überzeugt, erzählt Müller, einige neue Erst­kläss­le­r*in­nen würden seitdem regelmäßig mitfahren: „Die Eltern von einem Geschwisterpaar waren erst zurückhaltend, ihre Kinder allein mit dem Rad zur Schule fahren zu lassen. Wir bekamen eine Mail mit ihren Befürchtungen und einem großen Lob, dass wir das machen und die Kinder jetzt allein fahren.“

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