Die Boah-Insel

Erdöl hat Norwegen reich gemacht, aber auch Hunderte Arbeiter das Leben gekostet. Ein Museum zeigt den harten Alltag auf einer Ölplattform – und weckt bei unserer Autorin Erinnerungen

Das Erdöl­museum in Stavanger im Südwesten Norwegens Foto: Pond5/imago

Aus Stavanger Lena Reich

Es ist dunkel. Tiefschwarz. Eine Sirene heult auf, immer und immer wieder. Das lässt den Puls rasen. Die Ohren drücken. „Alles hat sich gedreht. Wir wussten gar nicht mehr, wo wir sind.“ So erzählen es die Jungs später. Dass sie sich gegenseitig fest an den Händen hielten und sich beruhigende Worte zusprachen. Dass sie panisch durch die Dunkelheit geirrt seien, dann tief durchatmeten, weil sich einer erinnerte, dass es doch nur eine Übung sei, was sie hier machten. Dass sie schließlich an einer Wand die Klinke ertasteten, sie herunterdrückten. Schon standen sie im gleißenden Tageslicht.

Die Jungs sind 12 und 13 Jahre alt und haben sich zwei Minuten durch den Panikraum des Erdölmuseums in Stavanger im Südwesten Norwegens gekämpft: ein Simulationstraining für den wahrscheinlichen Fall einer Evakuierung bei Arbeiten auf einer Ölplattform. Öl, das heißt Reichtum für Norwegen. Allein im ersten Quartal des Jahres 2022 erhielt der Staat knapp 10 Milliarden Euro aus der direkten finanziellen Beteiligung an Öl- und Gaskonzernen. Seitdem der amerikanische Konzern Phillips Petroleum 1969 rund 300 Kilometer südöstlich von Stavanger entfernt auf Öl gestoßen ist, gehören BP, Exxon und Shell zu Stavangers Nachbarschaft.

Weil der Wirtschaftsboom mit besonders tragischen Unfällen in den Offshore-Parks verbunden ist, wurde das Norsk Oljemuseum gegründet: aus Respekt vor den Familien Hunderter Arbeitenden, die seither ihr Leben in der rauen Nordsee ließen. König Harald V. zerschnitt vor 25 Jahren persönlich das Band zum Flachbau, der sich entlang des Hafenbeckens von Stavanger zieht. Von der ersten erfolgreichen Bohrung über Korruptionsfälle bis zur Energiewende – die sehenswerte Ausstellung erzählt die Geschichte vom Öl und seiner Anziehungkraft.

Ich gehe den Gang entlang, der den Museumsbau mit einer Miniplattform verbindet. Der lange Flur stellt das Innere eines Hubschraubers dar. Links und rechts schimmert das Hafenwasser durch die Bullaugen. Davor eine Sitzreihe, auf der die Arbeiter bei ihrem Überflug hocken, lesen, zocken. Sie lassen sich auf die Ölfelder Norwegens bringen, die etwa „Heidrun“ oder „Kristin“ heißen.

Das hätte Onkel Georg gefallen, denk ich mir. Er war nicht mein richtiger Onkel, aber in Ostfriesland, wo ich in den 80ern meine Kindheit verbracht habe, hießen Männer nun mal „Onkel“ und Frauen „Tant“. Viele Männer arbeiteten zu der Zeit auf einer britischen Bohrinsel in der Nordsee. Alle drei Wochen wurde Onkel Georg also von Tant Herta an die holländische Grenze gefahren, wo er unter ihren verheulten Augen und denen der dreijährigen Tochter in den Zug Richtung Rotterdam stieg.

„Dü is de Ries awer noch niks to enne, min Kinnie“ – „Da ist die Reise aber noch nicht zu Ende, mein Kind“, sagte er im tiefen Friesisch zu mir, als ich das erste Mal bei dieser Abschiedszeremonie dabei sein durfte. „Dät gaiat noch wiedern: up en Fähl, dann upen klönkene Insel un dann nochmol wid en Huupskaarba, wo dü so räächt sköon dörchoarschetelt wurdst, up de Boorinsel. Do is mien Arbeit.“ – „Das geht noch weiter: auf eine Fähre, dann auf ‘ne kleine Insel und dann noch mal mit dem Hubschrauber, wo du so richtig schön durchgeschüttelt wirst, auf die Bohrinsel. Da ist meine Arbeit.“

Die Boah-Insel, Ort meiner Träume. Denn nach Wochen kehrte Onkel Georg stets mit Geschenken zurück. Quality-Street-Pralinen und Polly-Pocket-Stuff für die Kleinen, Schnaps und John-Players-Zigaretten in Dosen für die Großen: zollfrei, paradiesisch. Erst als wir viele Jahre später noch einmal die VHS des britischen Ölkonzerns in den Videorecorder legten und sahen, wie die raue See die bärtigen Männer im Griff hatte, schimmerte mir, dass das, was da passierte, ein Familienleben unmöglich machte.

Von Eheproblemen, toxischer Männlichkeit und der Einsamkeit auf See erzählt die Ausstellung im Museum nur am Rande. Briefe dokumentieren die Zweifel, die die Väter in sich tragen, während sie in der Ferne schufteten, sich in Kinos ablenkten. „Dere is ek en Puff“ – „Da ist auch ein Puff“, sagte Onkel Georg mit breitem Grinsen und steckte sich die nächste Zigarette an. Davon erzählt die Ausstellung in Stavanger aber nicht.

Den Alltag auf der Plattform nachzuempfinden, darum geht es den Machern des Museums. Noch heute arbeiten etwa 100.000 Menschen auf den rund 500 Bohrinseln und Förderplattformen in der Nordsee. Hilfskräfte verdienen um die 3.000 Euro, Fachkräfte bis zu 7.000 Euro. Gearbeitet wird zwei Wochen am Stück, gefolgt von einem drei- bis vierwöchigen bezahlten Urlaub. Unterkunft und Verpflegung sind frei – ein verführerisches Angebot. Viele junge Norweger können sich sehr wohl vorstellen, so ihr Geld zu verdienen. Die Jungs nicht. Sie machen Handyfilmchen in den orangefarbenen Sicherheitsanzügen, die ihnen viel zu klein sind.

Im Museum geht es vom Hubschrauber direkt auf die dreistöckige Insel. Die Monitore und die vielen kleinen Schalter am Kontrollturm verführen dazu, wie verrückt zu drücken. Das ist immer so, wenn man keine Ahnung hat, denk ich mir, und hau in die Tasten. In der Mitte steckt ein gelber Bohrer, der das Öl aus 2.000 Metern zieht, würde er echt sein. Schon crazy, so ein Rohstoff. Die Aussicht auf Stavangers Hafen, die man vom Kontrollturm hat, auch.

Den Notfall proben die echten Arbeiter einmal im Monat

Wenn der Notfall auf See eintritt, bleibt oftmals nur der Ausweg über die Notfalltreppe, die auch hier im Museum benutzt werden kann: eine Zickzackrutsche aus gelber Plane, die alle zwei Meter die Richtung wechselt und so extreme Höhen überwindet. „Den Notfall proben die echten Arbeiter einmal im Monat“, sagt die Museumsführerin zu den Jungs. Ein Notfall heißt, dass die Plattform evakuiert werden muss, wie damals bei der „Kielland“. Die maroden Betonpfeiler der ersten Bohrinsel Norwegens waren am 27. März 1980 in sich zusammengebrochen. In nur einer halben Stunde hatte sich die „Kielland“ wie eine Schildkröte auf den Rücken gelegt. 121 Menschen kamen damals ums Leben. Es war das schlimmste Unglück in der norwegischen Ölgeschichte und der Grund für den Museumsbau.

Von Unglücken wie diesem wurde im Fernsehen im Narrativ „In der Nordsee ist eine Ölplattform explodiert“ berichtet, dazu ein paar wacklige krisselige Bilder aus dem Hubschrauber. Keiner konnte die brennende, in sich zusammengekrachte Insel einem Konzern, Arbeitgeber oder einer Region zuordnen. Erst recht nicht Tant Herta. Wenn das so war, dann tigerte sie um das weiße Telefon, das so amerikanisch an der Wand hing und dessen Schnüre bis in die Küche reichten. Es war die einzige Verbindung zu Onkel Georg. Manchmal klingelte es erst Tage später.

Von dieser tragischen Kommunikationslogistik sind die gackernden Jungs Lichtjahre entfernt. Vor dem Ausgang thront ein meterhoher Bohrer hinter Plexiglas, der auf Knopfdruck den krachenden Sound imitiert, mit dem er im echten Leben die Erdkruste durchdringt. Auf dem Video, das sie aufnehmen, sehe ich mich später zucken. Ein Running Gag, der dank TikTok gleich der ganzen Welt mitgeteilt werden muss.