Schlurfende Flügelmänner

Zum Saisonabschluss etwas religiös grundiertes Mordstheater: Woody Mues’ satt theatralisches „Das Ende von Iflingen“ am Thalia-Theater Gaußstraße in Hamburg

Abgerocktes Trio: Julian Greis, Steffen Siegmund und Oliver Mallison (v. l.) als rächende Engel-Clowns Foto: Fabian Hammerl

Von Jens Fischer

Globale Krisenlagen werden gern apokalyptisch gedeutet, als Endzeit vor der absoluten Katastrophe. Endlich Schluss mit dem Anthropozän! Also hinfort mit den Menschen, die ja für all die Probleme verantwortlich sind? Der Richter aller Richter ist jedenfalls des langmütigen Wartens auf nachhaltige Einsicht müde, er will nicht mehr untätig wegschauen, sondern zum Jüngsten Gericht rufen. Massenmord. So wird zumindest laut Wolfram Lotz’ Hörspiel „Das Ende von Iflingen“ in den himmlischen Sphären gedacht: Das Urteil ist gefällt, die Vollstreckung zu vollziehen. Wo beginnen? Egal!

Gott hat immer recht, also sind seine Anweisungen immer richtig, und wenn er sagt, alle Menschen seien Sünder, dann können auch alle weg, lautet in etwa die Argumentation von Erzengel Michael. Den schickt Lotz mit einem Hilfsengel los, um zu Posaunenbeschallung erst mal die Be­woh­ne­r:in­nen des titelgebenden Dorfs in Baden-Württemberg mit dem flammenden Schwert zu Asche zu schlachten. Vielleicht ist das auch die wirklich allerletzte Warnung, um den anderen Erdenbürgern die rettende zweite, aus der Johannes-Offenbarung bekannte Bedeutung von Apokalypse zu vermitteln: Erlösung.

Also den Untergang als möglichen Start künftigen Heils verstehen? Möglich, wenn die apokalyptische Krisengemengelage nicht zu Ohnmacht führt, sondern als Aufruf zum Handeln für eine Kehrtwende verstanden wird; sodass Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten lebendig bleiben. Dieser Dreh schimmert unter dem fröhlichen Defätismus von Woody Mues’ satt theatralischer Inszenierung am Hamburger Thalia-Theater.

Die Akte mit dem Vernichtungsbefehl fällt vom Himmel, eine Bühnenbildkanzel wartet auf mahnende Predigten, mit Musikerin Lena Geue werden moralische Lieder intoniert. Lotz’ Engelsduo kommt in Gestalt von Julian Greis, Oliver Mallison und Steffen Siegmund als ziemlich abgerocktes Clownstrio daher: ein schmierig-zynischer Advokat Gottes, dessen mephistophelischer Widerpart und ein tollpatschiger Clochard mit Lust am Hinterfragen. Er ist an rationalen Handlungsgründen, nicht am maximalen Bedienen von Autoritäten interessiert, zweifelt den Sinn angeblich göttlicher Pläne an – und versucht, aus der Deckung das Schlimmste zu verhindern. Wobei die sprachwitzigen Pingpong-Dialoge mit dezentem Slapstick, grellkomischer Gestik und überdrehtem Kabarett-Effekten serviert werden.

Handlung gibt es kaum. Dafür triumphiert der lebendige Charme einer Theaterprobe, wenn die imaginär beflügelten Männer endlich losschlurfen, das Eindringen in Iflinger Häuser imaginieren – und niemanden zum Töten vorzufinden. Aus der Irritation wuchern Rollenwechsel: Die Schauspieler schlüpfen kauzig-vergnügt und zur Freude des Publikums in fabelhafte Personifikationen menschlichen Fehlverhaltens. Lassen einen chronisch empörten, arbeitswütigen Nörgel-Igel seinen Lebenssinn praktizieren: Laub zerwühlen. Warum tut er das? Weil es sonst niemand mache!

Ein Mauersegler hat derweil wie ein bürgerlicher Mittelschichtler reichlich Angst vor dem Absturz und verkriecht sich in Missmut. Fanatisch pflichtergeben begibt sich ein Schwein für die kapitalistische Verwertungslogik in die Selbstaufgabe, will unbedingt geschlachtet werden, nur so würde seine Existenz als sinnvoll anerkannt.

Gott hat immer recht, und wenn er sagt, alle Menschen seien Sünder, dann können auch alle weg: so, in etwa, die Argumentation von Erzengel Michael

Die Iflinger sind schließlich in einer Kirche zu finden, tot, vom Priester gerichtet. Einsicht in die Notwendigkeit? „Die lächerliche Finsternis“ steht final an der Liedtafel. Keine Aufforderung zu düsterem Singen, sondern eine Erinnerung an das 2014 uraufgeführte Lotz-Werk voller monströser Bedrohungsszenarien, in denen überforderte Westeuropäer vergeblich nach Orientierung suchen.

Dagegen spielte der Autor im 2009 veröffentlichten Iflingen-Hörspiel noch humorvoll die apokalyptische Sicht der Dinge durch, mit der Geschichte wahrgenommen werden sollte – um zu beschwören, was abzuwenden ist. So kreuzfidel das nun in Hamburg zu erleben ist, lassen sich auch Lichtfunken in die lächerliche Finsternis fantasieren. Ein prima Saisonabschluss!

Letzte Vorstellung: Mi, 10. 7., 20 Uhr, Hamburg, Thalia Gaußstraße/Werkstatt