schlagloch
: Hilfe, ich bin elitär

Keine Gesellschaft kommt ohne Eliten aus. Das ist kein Drama, man sollte nur darauf achten, Eliten zu demokratisieren und die Demokratie zu elitisieren

Auf meiner Rating-Liste der Dinge, die mir echt bis zum Hals stehen, kommen die Blödsinnigkeiten, die mit dem Begriff „Elite“ verbunden sind, auf Rang 11. (Rang 12 belegt übrigens die Manie für Rating-Listen.)

Klar, die Rechten mussten „Eliten“ erfinden, weil sie sonst kein Gegengewicht zu ihrem heiligen „Volk“ hätten, das ja bekanntlich in der Demokratie nicht wirklich an der Macht ist, weil es diese verdammten Eliten gibt, die einen tiefen Staat unter Pizzerien führen und auf Geheiß von George Soros das Volk mit Impfzwang und großem Austausch vernichten wollen. Aber es gibt auch weniger blöde Leute, sogar Linke, die meinen, dass „Eliten“ und das „Elitäre“ so ziemlich an allem schuld sind, vor allem an der Ungerechtigkeit der Verhältnisse. Ganz allgemein und nach dem Sprachgebrauch lässt sich der Begriff „Elite“ in fünf verschiedenen Zusammenhängen fassen.

1: Zur Elite gehören Menschen, die irgendwas besser können als andere. Das heißt: Jeder Berufszweig, jede Klasse hat eine Elite. Das gilt für Wissenschaftler*innen, Künstler, Politikerinnen wie für Fußballspieler oder Postbotinnen. Das, was wir gerade als „Fachkräftemangel“ erleben, könnte man also auch als Elitemangel verstehen. Dass Leute, die irgend etwas besser können als andere, in der einen oder anderen Weise dafür auch belohnt werden (sei’s durch Freiheit, durch Anerkennung oder Luxus), ist okay. Man darf das aber keinesfalls übertreiben. Eher kein Geniekult, eher kein Privatflugplatz!

2: Elite könnten auch jene Menschen sein, die ein System genauer kennen als andere. Daher gibt es eine Elite der Wissenschaften, aber auch eine Elite des Wissenschaftsbetriebes. Und eben eine politische, ökonomische, kulturelle Elite. Jede Gesellschaft braucht eine Elite, so wie Maschinen nicht ohne Ma­schi­nis­t*in­nen funktionieren. Es gibt, so wie es feudale oder faschistische Eliten gibt, demokratische Eliten, die allerdings etwas komplizierter wirken: Sie müssen zugleich Demokratie elitisieren und Eliten demokratisieren.

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Georg Seeßlen

ist freier Autor und hat über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm „Coronakontrolle. Oder nach der Krise ist vor der Katastrophe“ bei bahoe books.

Die Schlagloch-Vorschau

24. 7.

Charlotte Wiedemann

31. 7.

Ilija Trojanow

7. 8. Gilda Sahebi

14. 8.

Mathias Greffrath

21. 8. Georg Diez

Dagegen gibt’s freilich Widerstand, und damit sind wir bei 3: Elite wird zu einem selbstreferentiellen Subsystem innerhalb von Staat und Gesellschaft, das die Kontrolle über die Verbindung der drei Herrschaftselemente für sich beansprucht: Wissen, Macht, Besitz. Immer wieder setzt sich das Phantasma einer „totalen Elite“ fest. Diese Elite, die vor allem mit dem Erhalt der eigenen Macht beschäftigt ist, tendiert dramatisch zu Verblödung und Verrohung. Sehen wir uns nebenbei die Kan­di­da­t*in­nen­lis­te der AfD an: Bemerkenswert viele von ihnen entstammen der staatlich-gesellschaftlichen Elitenbildung: Justiz, Militär, Polizei, Erziehung, Wissenschaft, Verwaltung. In den Thinktanks und „Instituten“ der „neuen Rechten“ wird eifrig an der Herstellung einer eigenen „Elite“ gearbeitet. Man hat’s von den historischen Nazis gelernt, deren Ziel der möglichst rasche Austausch der bürgerlichen durch die faschistische Elite war. Die Rechten sind alles andere als anti-elitär; sie mögen bloß keine demokratische Elite.

Dass sich ein so auffälliger Teil der ökonomischen Gewinner an die rechtspopulistischen bis rechtsextremen Bewegungen halten, führt zu 4: Elite sind Menschen, die ihre Privilegien, ihre Macht, ihren Reichtum, ihren Einfluss, ihr Ansehen, aber auch ihre Umgangsformen, ihre Konsumgewohnheiten, ihre Statussymbole mit aller Gewalt gegen Kritik, Widerstand und Veränderung verteidigen. Eine Klasse für sich innerhalb der Klassenherrschaft. Bleibt umgekehrt 5: Eine Elite der vom Besitz durch die Klasse gelösten Kultur, die das System semantisch und organisatorisch durchschaut und seine verborgene Wahrheit preisgibt, die gehassliebte „intellektuelle Elite“. Sie befindet sich in einem populistisch-autokratischen Regime vorwiegend im Gefängnis, im Exil oder im Untergrund. Dort sähe sie auch unsere neue Rechte am liebsten.

Was man da theoretisch auseinanderhält, ist leider in der Praxis ein gewaltiges Durcheinander, alles zwischen „Erstickt doch an eurer Arroganz!“ bis „Wo sind die Eliten, wenn man sie mal braucht?“. Stand der Dinge ist: Eine Gesellschaft funktioniert nicht ohne Eliten, so widersprüchlich sie in sich auch sein mögen. Und Versuche, die Eliten abzuschaffen, enden so furchtbar wie die chinesische Kulturrevolution. Es kommt nicht darauf an, die Eliten zu beseitigen, sondern sie demokratisch zu kontrollieren und ihre Arbeit für alle nutzbar zu machen.

Ist schon „Elite“ ein Begriff voller innerer Widersprüche, dann setzt es mit „elitär“ vollends aus. Denn „elitär“ können sich auch Leute geben, die mit den Eliten nichts zu tun haben: Angeber, Snobs, Menschen, die dem Irrtum aufsitzen, dass jemand, der etwas besser kann (zum Beispiel Tennis spielen) auch was Besseres ist. Man kann allerdings auch alles, was einem zu anstrengend, zu kompliziert, zu kritisch, zu „abgehoben“ vorkommt, als „elitär“ bezeichnen. Wenn man etwas als „elitär“ kennzeichnet, muss man sich damit nicht mehr auseinandersetzen. Dabei sind die traditionellen Merkmale des „Elitären“ längst verschwunden: Das Weltwissen ist für jede und jeden mit ein, zwei Clicks verfügbar. Ein Taylor-Swift-Konzert oder das Ticket für ein WM-Spiel kosten mehr, als wir gewöhnliche Menschen im ganzen Jahr für Kultur ausgeben – und trotzdem nennt man nicht dies, sondern das Hinterhoftheater „elitär“. Und dass höhere Bildung für immer weniger erschwinglich wird, hat weniger mit Elite als mit dem Kapitalismus zu tun.

Jede Gesellschaft, jede Staatsform braucht eine Elite, so wie Maschinen nicht ohne Ma­schi­nis­t*in­nen funktionieren

Und jetzt kommt’s: Ganz offensichtlich funktioniert die einstige Verbundenheit zwischen ökonomischen, politischen, sozialen, wissenschaftlichen, kulturellen Eliten nicht mehr. Im Kampf um die kulturelle Hegemonie und um die Fleischtöpfe bekommt die rechte Heimtücke der Anti-Elite-Kampagne willige Helfer. Die Demokratie ist verloren, wenn sie keine Eliten der Demokratie und keine Demokratie der Eliten hervorbringt.