Küsschen am Straßenrand

Für die französischen Radrennfahrer ist bei der Frankreich-Rundfahrt
nicht viel drin, sie sorgen immerhin für nette romantische Intermezzi

Bestplazierter Franzose in der Gesamtwertung: Guillaume Martin auf einer Pyrenäen-Etappe Foto: REUTERS/Stephane Mahey

Aus Nimes Tom Mustroph

Diese 111. Tour de France begann für die Franzosen prächtig. Die ersten beiden Etappen in Rimini und Bologna gewannen zwei Franzosen: Romain Bardet und Kévin Vauquelin. Altmeister Bardet durfte sich zum ersten Mal das Gelbe Trikot überstreifen – ein Kindheitstraum ging in Erfüllung für den Tour-Zweiten von 2016. Glückselig wurde in den Statistiken geblättert: Seit 1968 gab es das nicht, dass die ersten beiden Etappen einer Tour an Franzosen gingen. Damals, vor 56 Jahren, reichte noch ein Franzose dafür aus: Charly Grosskost. Der gebürtige Elsässer fuhr damals für Frankreich B – es waren Nationalteams am Start, Frankreich hatte deren zwei.

Am Ende fand sich trotzdem kein Franzose auf dem Podium des Gesamtklassements wieder. Aber immerhin zehn Etappensiege konnte das Gastgeberland feiern. Bei dieser Tour de France kam wenigstens noch ein beeindruckender Sieg von Anthony Turgis auf der Schotter­etappe hinzu. Ansonsten? Flaute. Erst recht in der Gesamtwertung. Bester ist hier auf Rang 16 der Cofidis-Profi Guillaume Martin mit fast 40 Minuten Rückstand. Der nimmt es lässig. „Ich war schon Achter und Zehnter bei der Tour. Das Resultat hier spiegelt nicht mein Vermögen wider“, sagt er. Er wolle vor den Alpen noch mehr Rückstand aufnehmen, um bei Fluchtversuchen leichter ziehen gelassen zu werden.

Ob er da erfolgreich ist, ist zweifelhaft. Denn die Teams des Gesamtführenden, Tadej Pogacar, und des Zweiten, Jonas Vingegaard, lassen selten Fluchtgruppen ins Ziel kommen. „Es ist frustrierend. Du arbeitest den ganzen Tag, gibst alles für eine Siegchance, und dann kommen sie doch wieder von hinten heran“, ärgerte sich Martin. Er gab aber zu: „An ihrer Stelle würde ich es wohl genauso machen.“

Immerhin für schöne Bilder sorgen die Franzosen. Julien Bernard etwa ließ sich beim Zeitfahren von Freunden und Familie so sehr feiern, dass er sogar anhielt, um seiner Frau einen Kuss zu geben. Das erzürnte zwar die Rennkommissare des Weltverbands UCI, die ihm wegen „sportlich unwürdigen Verhaltens“ 200 Franken Strafe aufbrummten. Millionen Radsportfans an den Fernsehgeräten waren hingegen begeistert von der Szene. Bardet wiederum schnappte sich in seiner Heimatregion im Zentralmassiv ein Fähnchen, das Fans in einer nach ihm benannten Kurve ins Peloton gereckt hatten. Auch er klatschte Freunde und Verwandte ab. Hieran störte sich die UCI nicht. Am Nationalfeiertag setzte er noch einen Akzent und stürmte aus der Fluchtgruppe heraus zum Col de Peyresourde. Landsmann David Gaudu ging mit und holte sich die Bergpunkte. „Angriff aufs Bergtrikot“, triumphierten schon die französischen Beobachter.

Nach etwa 20 Kilometern waren beide aber eingefangen und landeten weit abgeschlagen im Ziel. Martin war als Tages-20. noch der Beste. Aber auch er zeigte sich ernüchtert vom Ablauf des Rennens: „Wenn Pogacar und Vingegaard vorbei stürmen, frage ich mich: Liegt es an mir, dass ich unter dem Niveau bin, das ich hätte erreichen können, oder sind die einfach noch mal besser geworden?“

„Ich war schon Achter bei der Tour. Das Resultat hier spiegelt nicht mein Vermögen wider“

Guillaume Martin, Radprofi

Den Rekordzeiten des Duos zufolge werden die beiden immer besser. Sandy Casar, Ex-Etappensieger bei der Tour de France und jetzt als Repräsentant des Sponsors des weißen Trikots des besten Nachwuchsfahrers bei der Tour, schließt immerhin Doping aus. „Ich mag mich irren, aber jetzt handelt es sich nicht um Doping, sondern um Optimierung. Alles ist streng durchkalkuliert, die Kohlenhydrate, die du zu dir nimmst. Die Teams nehmen dir Blut ab während des Trainings. Es ist wie bei der Formel 1 geworden.“

Und weil der Motorsport das Leitbild des modernen Radsports geworden ist – siehe Windkanaltests in Silverstone, siehe den Einstieg von Red Bull bei Bora hansgrohe – holen sich auch französische Teams Anleihen aus der Vierrad-Branche. Dominique Serieys, der neue Chef von Team Decathlon, kommt aus dem Motorsport. Er sorgte für neue, schnellere Räder, entwickelt unter anderem mit der Hilfe des Luft- und Raumfahrt­unternehmens Onera. Und er gab auch gleich vor: „Bis 2028 wollen wir die Tour de France gewinnen.“ Das ist doch mal eine Ansage.