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: Als Adorno irgendwie in Lüneburg wohnte

Jörg Später erzählt in „Adornos Erben“ eine „Geschichte aus der Bundesrepublik“ anhand der Geschichten von zwölf Mit­ar­bei­­te­r*in­­nen des Philosophen

Von Robert Matthies

Fast wie eine Strafe habe Hermann Schweppenhäuser es anfangs empfunden, dass es ihn zu Beginn der 1960er-Jahre an den Rand der Lüneburger Heide verschlagen hatte, nach Deutsch-Evern südöstlich von Lüneburg. „[E]in bigottes morsches Nest, auf welches der Heinesche Spott unverändert zutrifft“, schrieb er über die Stadt, die Heinrich Heine „das alte, mürrische Lüneburg!, die Residenz der Langeweile!“ genannt hatte. So beginnt Jörg Später, Historiker, freier Autor und mit der Forschungsgruppe Zeitgeschichte der Uni Freiburg assoziiert, sein Kapitel über Schweppenhäuser in seiner anhand von „Adornos Erben“ erzählten „Geschichte aus der Bundesrepublik“.

Später folgt darin „den verstreuten Spuren“ von zwölf Mit­ar­bei­te­r*in­nen Theodor W. Adornos, unter anderem Regina Becker-Schmidt, Jürgen Habermas, Oskar Negt, Rolf Tiedemann und eben Schweppenhäuser, die sich von Frankfurt am Main über die ganze Bundesrepublik verteilten und nun in Starnberg, Gießen oder eben Lüneburg wirkten. Und er beschreibt, wie sie Adornos Erbe in Wissenschaft, Politik und neuen sozialen Bewegungen annahmen und veränderten, um die Geschichte der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule vielstimmig zu erzählen.

Schweppenhäuser hatte in Frankfurt studiert, bei Hans-Georg Gadamer, dann bei Max Horkheimer und Adorno. In den 1950ern war er wissenschaftlicher Assistent am neu gegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung und Assistent von Adorno am Philosophischen Seminar. Mit Schweppenhäusers Umzug wohnte Adorno „von da an irgendwie auch in der Lüneburger Heide“, schreibt Später. Schweppenhäuser wurde auf den neuen Lehrstuhl für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg berufen, seine Ehefrau Gisela lehrte an der dortigen Fachhochschule für Sozialpädagogik.

Dem Idol immer ähnlicher

In Lüneburg vertrat Schweppenhäuser, anders als etwa Habermas, weiterhin die Kritische Theorie im Sinne Adornos und Horkheimers, beschäftigte sich mit Sprachphilosophie, der Selbstreflexion des dialektischen Denkens, mit Ästhetik und Kulturtheorie und später verstärkt mit bildtheoretischen Fragen. Gemeinsam mit Rolf Tiedemann gab er die gesammelten Schriften Walter Benjamins heraus. Zu Schweppenhäusers 80. Geburtstag veranstaltete die Uni Lüneburg 2008 eine Tagung zum Thema „Bild, Sprache, Kultur. Ästhetische Perspektiven kritischer Theorie“.

Buchvorstellung und Diskussion „Adornos Erben“ mit Jörg Später, Wolfgang Knöbl und Clemens Boehncke: heute, 19 Uhr, Hamburger Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36

Jörg Später: „Adornos Erben – Eine Geschichte aus der Bundes­republik“, Suhrkamp, 760 S., 40 Euro, E-Book 34,99 Euro

Mit der Zeit habe Schweppenhäuser Lüneburg lieben gelernt, schreibt Später, weil es seiner zurückgezogenen Art entsprochen habe. In der Stadt sei er bald beliebt gewesen, denn es gab „ein philosophisch interessiertes und kunstaffines Publikum, das goutierte, wenn jemand sprach wie Adorno, von Goethe schwärmte und auch über Beethovens Hammerklaviersonate op. 106 etwas zu sagen hatte“, schreibt Später. Dass sich Schweppenhäuser noch in den 1980ern kleidete, wie er es schon in den 1950ern getan hatte, sei im bürgerlichen Lüneburg nicht auffällig gewesen, schreibt Später: „Schweppenhäuser spielte Adorno in der Lüneburger Provinz, wurde seinem Idol immer ähnlicher und erhielt dafür warmen Beifall.“

Eine Lüneburger Schule ist dabei nicht herausgekommen. Wohl aber habe Schweppenhäuser dort jungen Aka­de­mi­ke­r*in­nen eine Starthilfe geben können, die entgegen aller Trends der 1970er dort noch die Kritische Theorie in ihrer „reinen, unsprünglichen Form“ lernen konnten – die sie von Lüneburg wieder weiter durch die Bundesrepublik trugen.

Heute Abend spricht Später im Hamburger Institut für Sozialforschung mit dessen Direktor, dem Soziologen Wolfgang Knöbl, sowie dem Soziologen und Politikwissenschaftler Clemens Boehncke über Adornos Erben und seine „Geschichte aus der Bundesrepublik“.