„Die merken sich, wo sie Blumen gesetzt haben“

Gerade in Großstädten brauchen Kinder Kontakt mit der Natur, sagt der ehemalige Grundschullehrer Stefan Behr. Wie seine Idee von blühenden Schulhöfen dabei hilft

Drei Kinder sind draußen, sie stecken die Köpfe über hochgewachsenen Blumen und Gräsern zusammen und lachen. Hinter ihnen ist ein Sportplatz mit rotem Boden und Gitterzaun.

Welche Stechimmenart sich hier auf dem blühenden Schulhof am Nektar labt? Die Kinder wissen es bestimmt Foto: Stefanie Biel/NaturGarten e.V.

Interview Heike Holdinghausen

taz: Herr Behr, wer bevölkert den Schulhof in der Hamburger Ganztagsgrundschule Sternschanze?

Stefan Behr: Na erst mal Hunderte von Kindern im Grundschulalter. Dazu kommen unzählige Insekten und Vögel, zum Beispiel Rotkehlchen, Meisen und ein Buntspechtpaar. Im Frühsommer hat die Deutsche Wildtier Stiftung auf unserem Schulhof Arten gezählt. Sie ist dabei auf 107 Stechimmenarten gekommen, also Hautflügler wie etwa Bienen oder Wespen. Von den 107 erfassten Arten waren 55 Wespenarten und 52 Wildbienenarten, darunter fünf, die auf der roten Liste der bedrohten Tiere stehen. Zwei davon sind sogar erstmals in Hamburg gesehen worden! Und das auf einem vorher stinknormalen Schulhof.

taz: Wie wird denn ein Schulhof zu einem grünen Schulhof?

Behr:„Grün“ trifft es nicht, es ist ein blühender Schulhof! Pflanzen gab es vorher ja auch, das typische Immergrün, keine heimischen, sondern exotische Pflanzen. Honigbienen und Hummeln kommen auch mit nordamerikanischen Sonnenblumen klar, aber viele Spezialisten sind wählerischer. Es geht also nicht darum, Rabatten anzulegen oder Bäume zu pflanzen, sondern heimische Wildpflanzen in großer Vielfalt einzubringen, den gelb blühenden Gilbweiderich etwa, diverse Glockenblumenarten, Margeriten, Königskerzen und Natternkopf, alle in der Wildform natürlich. Einige Flächen haben wir entsiegelt, wir haben heimische Büsche gepflanzt. Das waren vermeintlich kleine Maßnahmen, die aber in dem hochverdichteten Hamburger Schanzenviertel erstaunlich effektiv waren. Zum Beispiel haben wir jetzt die seltene Wald-Schenkelbiene bei uns, die braucht nun mal den Gilbweiderich. Zitronenfalter hingegen sind auf Faulbaum und Kreuzdorn angewiesen, nur dort legen­ sie ihre Eier ab. Ohne diese Pflanzen gibt es keine Zitronenfalter.

taz: Kommen sich Kinder und Tiere nicht ins Gehege?

Behr: Einmal hat ein Specht nach einem Kind gehackt. Der brütet in einem Klettergerüst, das Kind kam seinem Nest zu nahe. Inzwischen hängt da ein Schild „Vorsicht Specht“. Es ist nichts passiert, das Kind hat sich nur erschreckt. Es folgte die Erkenntnis, dass Wildtiere ihre Küken und Jungen verteidigen.

taz: Was können Kinder auf dem Schulhof noch lernen?

Behr: Das ist die falsche Frage. Die Kinder sollen nicht in erster Linie lernen, sondern beiläufige Naturerfahrungen machen können, um so Interesse an ihrer Umwelt zu entwickeln. Das ist die Basis, von der aus sie ins Lernen kommen. Seit fünf Jahren gibt es für die Zweit- und Drittklässler eine „Naturzeit“. Jede Woche sind sie anderthalb Stunden in der Woche mit einer Naturpädagogin und einem oder einer Lehrer/in draußen. Mitte der zweiten Klasse geht es los, also im Februar. Da sind einige Kinder nicht so begeistert, und manchmal dauert es eine Weile, bis sie eine angemessene Kleidung mitbringen. Aber schließlich freuen sie sich darauf.

taz: Was machen die Kinder in der Naturzeit?

Behr: Unterschiedlich, es gibt jahreszeitliche Themen, oder sie bekommen Becherlupen und befassen sich mit Pflanzen oder Wildbienen oder mit der Bodenbeschaffenheit. Nachdem es neulich wochenlang geregnet hat, ging es um Schnecken: Die Kinder haben Schneckenhäuser gesammelt. Die Päd­ago­g:in­nen berichten, dass die Schü­le­r:in­nen ihnen innerhalb des Jahres immer mehr von eigenen Naturbeobachtungen erzählen, vom Balkon, im Urlaub, vom Schulweg. Unser Schulhof schließt Kinder für das Thema Natur auf, selbst in einer Großstadt wie Hamburg. Es ist für Kinder von Woche zu Woche spannend, es ist ja das Eigentümliche von Naturerfahrungen, dass die Natur einen immer wieder überraschen kann. Neulich saß zum Beispiel ein Krähenküken in einer Holzhütte, es war aus dem Nest gefallen.

taz: Was haben Sie gemacht?

Grün und schattig? Oder betongrau? „Es ist erschreckend, dass die meisten der über 32.000 Schulhöfe in Deutschland immer noch aus grauen Asphaltwüsten bestehen“, sagt Sascha Müller-Kraenner von der Deutschen Umwelthilfe. Mit dem Deutschen Kinderhilfswerk fordert der Verband naturnahe und klimaangepasste Schulhöfe.

Warum? „Schü­ler­innen und Schüler brauchen naturnah gestaltete Außenräume, die Aufenthalt und Unterricht an der frischen Luft, in grüner und anregender Umgebung gewährleisten“, sagt Holger Hofmann vom Kinderhilfswerk. Unter duh.de/projekte/gruene-schulhoefe sollen Bürger:innen ihre Verwaltung auf Schulen mit Bedarf hinweisen können. (taz)

Behr: Gar nichts, wir haben es beobachtet und in Ruhe gelassen, die Mutter war im Hintergrund. Solche Beobachtungen sind wertvoll und notwendig. Unsere Kinder haben so etwas nicht, wenn wir es nicht für sie inszenieren. Es wäre natürlich toll, wenn wir in Großstädten Brachflächen hätten, auf denen heimische Wildpflanzen wachsen und Kinder rumtoben können. Aber so was gibt es nicht mehr.

taz: Aus dieser Beobachtung heraus haben Sie die Idee eines Naturerlebnis-Schulhofs entwickelt?

Behr: Ich habe vor 12 Jahren einen Kleingarten in der Nähe von Hagenbecks Tierpark übernommen. Ich bin ziemlich schnell zum naturnahen Gärtnern gekommen, das hat mich total angefixt und ich habe das sehr leidenschaftlich umgesetzt. Mit der Zeit habe ich einen anderen Blick auf unseren Schulhof bekommen, auf die gepflasterte Fläche, die langweilige Vegetation. Das wollte ich ändern.

taz: Wie geht man das an?

Foto: Stefanie Biel

Stefan Behr war über 20 Jahre lang Grundschullehrer. Seit 2019 arbeitet er beim Hamburger Landes­institut für Lehrerbildung und Schulentwicklung und berät Schulen bei der Gestaltung naturnaher Schulhöfe und beim Klimaschutz.

Behr: Es braucht eine Initialzündung; von wem die kommt, ist egal. Wichtig ist, dass die Nutzergemeinschaft involviert sein muss. Es ist sinnlos, wenn eine Kommune hingeht und sagt: Wir setzen euch da jetzt einen naturnahen Schulhof hin. Das funktioniert nicht. Die Kinder müssen von Anfang an eingebunden sein, von der Planung bis zur Umsetzung und gerne auch Finanzierung. Die Schü­le­r:in­nen können zum Beispiel einen Spendenlauf organisieren. Sie müssen sich mit dem Gelände identifizieren. Dazu pflanzen bei uns die ­Erst­kläss­le­r:in­nen in jedem Herbst Hunderte von Frühblühern, am zweiten Standort machen es die Zweitklässler:innen. Die merken sich, wo sie die Blumen gesetzt haben, und flitzen im Frühjahr hin und gucken, wo da was wächst. Vieles ist allerdings umzäunt, sonst würde das kindliche Spiel alles kaputt machen.

taz: Dann wird die Spielfläche für die Kinder auf einem naturnahen Schulhof kleiner?

Behr: Quantitativ ja, qualitativ nein. Um Blumenpflanzungen und Sträucher kann ich rumlaufen, mich verstecken, das ist für die Kinder viel attraktiver als eine langweilige Riesenfläche. Es geht nicht darum, dass man hier und dort ein paar Flächen abzweigt und dort Beete anlegt. Es geht darum, dass Landschaftsplaner das ganze Gelände gestalten und strukturieren, es muss Spielflächen und Rückzugsorte geben, die Grenzen dazwischen können Vegetationsflächen sein.