rücktritte im osten
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„Rechte dürfen nicht die Stimmungshoheit haben“

Politiker können nur etwas ausrichten, wenn genug Menschen vor Ort die Demokratie verteidigen, sagt Markus Nierth, Ex-Ortsbürgermeister von Tröglitz

Interview:Thomas Gerlach

taz: Herr Nierth, im März 2015 wollten Rechtsextreme vor Ihrem Wohnhaus protestieren, weil im Dorf Flüchtlinge aufgenommen werden sollten. Da der Landkreis es nicht vermochte, Sie und Ihre Familie ausreichend zu schützen, sind Sie als ehrenamtlicher Ortsbürgermeister zurückgetreten. Inzwischen haben sich nach den Kommunalwahlen im Juni in vielen Landkreisen die neuen Stadt- und Gemeinderäte und Kreistage konstituiert. Was raten Sie Kommunalpolitikern, die wegen ihrer Arbeit bedroht werden?

Markus Nierth: Erstens unbedingt die Bedrohung öffentlich zu machen, die Täter nach Möglichkeit zu benennen und auch die eigenen Emotionen, die Ängste, zu beschreiben und nicht den Coolen zu spielen. In der medialen Aufregung wird oft übersehen, was diese Bedrohungen und Übergriffe mit den Familien, mit Ehepartnern und Kindern machen. Erst dadurch entsteht auch menschliche Anteilnahme, hoffentlich auch bei der schweigenden Mitte.

taz: Was noch?

Nierth: Verbündete suchen und sich mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort vernetzen, um – hoffentlich – gemeinschaftlichen Schutz zu bekommen. Sonst wird man schnell furchtbar einsam mit all seinen Ängsten. Möglichst breiter Widerstand nimmt den Rechten die Illusion, einen angeblichen Volkswillen auszuführen.

taz: Die Bedrohung von Kommunalpolitikern hat seit Ihrem Rücktritt noch deutlich zugenommen, nach einer aktuellen Studie sind fast zwei Drittel aller Bürgermeister und Kommunalpolitiker regelmäßig Anfeindungen und Attacken ausgesetzt. Hat sich trotzdem irgendetwas verbessert?

Nierth: Nach meinem Rücktritt im März 2015 wurden ohne Zweifel einige gesetzliche Regelungen eingeführt. So hat das Gesetz gegen Hasskriminalität, das von der Großen Koalition unter Angela Merkel 2020 in den Bundestag eingebracht wurde, mit den Geschehnissen in Tröglitz zu tun. Dass Aufmärsche vor Wohnhäusern, wie damals bei mir, verboten sind, auch. Und die Polizei ist wesentlich sensibler geworden und verfolgt viel schneller Hasskriminalität.

taz: Und was hat sich nicht geändert?

Nierth: Die reflexartigen Formeln mancher Politiker sind gleich geblieben, etwa dass man solche Taten verabscheut, dass man mit der ganzen Härte des Gesetzes durchgreift und so weiter. Diese Worte wirken auf die Betroffen längst nicht mehr beruhigend, weil nichts daraus folgt. Und ich meine dabei nicht nur Politiker. Dass in Walthershausen in Thüringen im Februar das Haus eines SPD-Politikers und auch sein Auto angezündet wurden, zeigt, dass die Verrohung wesentlich weiter fortgeschritten ist.

taz: Woran liegt das?

Nierth: Ich frage mich selbst, wie es sein kann, dass ich damals offenbar auch einer Illusionsblase aufgesessen bin, die mir dann um die Ohren geflogen ist. Ich hielt mich für einen angesehenen, anerkannten Ortsbürgermeister. Und plötzlich wagt sich ein kleiner motzender Teil aus den Löchern, der sich vorher nie eingebracht hat, und übernimmt die Stimmungshoheit und will, angeführt von der NPD, vor unserm Haus demonstrieren. Das ist die Lehre – wir müssen um Himmels Willen aufpassen, dass die Stimmungshoheit nicht übernommen wird.

taz: Ist das nicht schon im ostdeutschen Raum in vielen Orten Realität?

Nierth: Das stimmt leider. Dort werden die wenigen, die sich widersetzen, von den Rechten bedroht. Sie werden isoliert, diffamiert und wirtschaftlich geschädigt mit dem Ziel, sie schließlich zu vertreiben. Die Demokratie ist damit in größter Gefahr. Und Politiker können auch nur dann etwas ausrichten, wenn es genug Menschen gibt, die die Demokratie vor Ort verteidigen. Das ist der Knackpunkt, um den ich mir Sorgen mache.

taz: Haben die Demonstrationen gegen die AfD Anfang des Jahres nichts geändert?

Nierth: Doch! Als Bernd Höcke 2019 nach Zeitz kam, haben wir eine Demo angemeldet, da kamen 30, 40 Leute. In diesem Jahr im März waren wir 350 Leute auf dem Altmarkt in Zeitz, und als die Wutbauern mit ihren Traktoren und Hupen kamen, um zu stören, da strömten die mittelalten, eher bürgerlichen Leute auf die Straße und haben den rechten Krakeelern den Weg versperrt. Das hat mir Mut gemacht. Einige Leute sind inzwischen stärker bereit aufzustehen. Wie lange das hält, weiß ich allerdings nicht.

Foto: Gerlach

Markus Nierth, 1969, ev. Theologe, trat 2015 als Ortsbürgermeister von Tröglitz zurück. Er ist Co-Autor des Buchs „Brandgefährlich: Wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark macht“.

taz: Was sind das für Leute, die heute für die AfD trommeln?

Nierth: Ich habe gute Bekannte, die haben im Herbst 1989 gegen die SED demonstriert, die laufen jetzt bei den Nazis mit. Manche haben die „Coronadiktatur“ nicht verkraftet. Das Erschreckende ist, dass sich heute alte DDR-Funktionäre als Revolutionäre 2.0 aufspielen, Stasi-Leute, Offiziere. Sie schwingen Reden und erklären den Leuten, wie die wahre Demokratie auszusehen hat, und schwafeln von Polizeiwillkür und eingeschränkter Meinungsfreiheit. Die haben auch viel Verständnis für Putin. Dass das die obersten Hetzer sind, kann ich für Zeitz sehr gut beurteilen. Und sie sprechen Leute an, die die Revolution damals verpasst haben. Das ist wie ein nachgeholter psychologischer Prozess, und der hat Folgen.

taz: Welche Folgen?

Nierth: Diese Leute rennen den Neurechten hinterher, weil es eben auch bequem ist. Sie agieren wie eine neureligiöse Bewegung. Sie missionieren, es gibt religiöse Glücksmomente, es gibt Dogmen. Und es entlastet. Denn es gibt bei den Anhängern keine Selbstreflexion, kein Nachdenken und keine eigene Rolle. Alle Probleme werden auf „die da oben“ abgewälzt. Es gibt keine Diskussion. Dabei ist Diskussionsfähigkeit der Schlüssel für ein mündiges Bürgertum.

taz: Was bedeutet das alles für Menschen, die sich jetzt in der Kommunalpolitik engagieren wollen?

Nierth: Man muss Menschen ermutigen, sich zu entscheiden. Wollen sie ihr Umfeld und ihre eigene Zukunft mitgestalten? Oder wollen sie sich dem stumpfen Frust hingeben? Diese Ermutigung scheint inzwischen besser zu gelingen. Denn viele Menschen ahnen, dass etwas von ihnen abhängt. Das macht Hoffnung.