Ein Moderner Mann

Von den 80er-Jahren hat Konstantin Unwohl nur sehr wenig mitbekommen. Sein neues Album klingt trotzdem gehörig nach ihren düsteren, pessimistischen Seiten: „Neuer Wall“. Ein Treffen auf der gleichnamigen Hamburger Luxus-Einkaufstraße

Von Victor Efevberha

Ein Vormittag am Neuen Wall. In der Luxuseinkaufsstraße in der Hamburger Innenstadt herrscht reger Lieferverkehr, die meisten Geschäfte sind noch nicht geöffnet. Eine Frau kommt aus der Filiale eines Schweizer Uhrenherstellers und staubsaugt noch eben schnell den Asphalt vor dem Geschäft.

„Neuer Wall“, so heißt auch das zweite Album von Konstantin Unwohl. Der schlängelt sich gerade auf seinem Klapprad durch den Lieferverkehr und schließt es vor dem Geschäft mit den teuren Uhren an. Eigentlich heißt der Hamburger Musiker Korbinian Scheffold, er ist ein lang gewachsener Mann, schlank und mit einem hageren Gesicht: „Ich finde diese Straße so absurd“, sagt er, „hier gibt es einen Haufen teurer Handtaschen, die du dann nicht mal kaufen kannst, die dann nur im Schaufenster stehen.“

Weniger absurd und deutlich greifbarer ist der Filterkaffee, den sich Konstantin Unwohl beim Bäcker holt. Erst kürzlich hat er hier am Neuen Wall ein Musikvideo gedreht, und der Straßenname inspirierte ihn zum Titel für das Album: „Neuer Wall ist halt eher so im Kopf als die Vergegenwärtigung des Anderen“, sagt er. „Was soll ich hier auch?“ Auf „Neuer Wall“ entlarve Konstantin Unwohl eine Gesellschaft aus recyceltem Plastik zwischen Schein und Sein, so umschreibt es sein Label. Das Album beginnt ausgeglichen mit einem Song namens „Balance“: Langsam bauen sich Synthesizersounds auf, und ein Beat beschleunigt sich allmählich. Dass dem 29-Jährigen die Musik der 1980er als Inspirationsquelle dienen, ist offensichtlich: „Das hörst du wahrscheinlich, dass ich diese Zeit sehr mag“, sagt er. „Ich bewege mich auch immer mehr weg vom Computer, wenn ich Musik mache.“

Das Album ist eine Hommage an den Sound des Dark Wave: Die Kompositionen verlassen sich weitgehend auf weiche Moll-Töne, die Texte wirken introspektiv, romantisch, auch mal trostlos. Bei Konstantin Unwohl heißen die Stücke schon mal „Anleitung zum Versagen“ oder „Ich hass es, wenn man Spaß hat“.

Seine Musik produziert er komplett in Eigenregie, mit analogen Geräten. Widerspricht es dieser vielleicht als radikal anzusehenden Abwendung vom Digitalen, dass er ein Mobiltelefon besitzt, wenn auch nur ein nicht internetfähiges Nokia 3310? „Gesellschaftlich bin ich auf jeden Fall ein Befürworter der Moderne“, sagt er, „gerade wenn es um die Behandlung marginalisierter Gruppen geht.“ Ein Hang zur Nostalgie zieht sich klanglich wie ein roter Faden durch das Album, unüberhörbar sind die Jahrzehnte alten Einflüsse von Gary Numan bis Neuer Deutscher Welle.

Da wäre „Eine Träne, kein Rekrut“: eine Wave-Ballade, zugleich eine Ode an die Freiheit mit einer pulsierenden, energischen Melodie. In einem fast mahnenden Ton singt Unwohl: „Vergiss nicht deine Freunde an der S-Bahn und vergiss nicht deine Freunde in der Bahn.“ Diese Zeilen verweisen direkt auf die sichtbare Trinker- und Drogenkonsumierendenszene rund um den S-Bahnhof Holstenstraße in Hamburg-Altona – ein Ort, der innerhalb Hamburgs genauso sehr polarisiert wie der Neue Wall, aber eine gänzlich andere Parallelwelt repräsentiert.

Nur Besucher auf der „absurden“ Luxusmeile: Konstantin Unwohl am Neuen Wall in Hamburg Foto: Jakob Börner

Doch die Holstenstraße nun einfach mit all ihren Abgründen zu beschreiben, das wäre zu einfach gedacht. „Die Holstenstraße erlebe ich im Gegensatz zum Neuen Wall aktiv“, sagt Unwohl. „Du hast hier die Drogenszene, aber dann auch ein Luxusstudentenwohnheim und dann noch die Brauerei, die zur Hälfte abgerissen wurde und für die nächsten zehn Jahre so bleibt. Das ist schon sehr absurd.“ Eine Koexistenz von Gegensätzen, sicher – aber auch nicht absurder, als auf einem Gehweg staubzusaugen.

Geboren wurde der 29-Jährige mit den rot gefärbten Haaren im Allgäu. 2013 zog er nach Hamburg, für sein Studium, im selben Jahr fing er auch mit der Musik an. Hier formte sich seine künstlerische Identität. Der Name Konstantin Unwohl ist ein spielerische Variation von „konstant unwohl“. Das zeigt sich auf seinem ersten Album „Im Institut für Strömungstechnik“, 2021 veröffentlicht beim Berliner Label „aufnahme + wiedergabe“: Das Debüt, abgesehen von einigen EPs ist düsterer und aggressiver als der anstehende Nachfolger: „Dort war die Negativität spürbar, aber ich würde sagen, dass ‚Neuer Wall‘ versöhnlicher und hoffnungsvoller ist“, erklärt Unwohl, der mittlerweile an einem Tisch eines Cafés Platz genommen hat.

Neben einer Kritik an der Luxusgesellschaft habe der Titel auch eine persönliche Bedeutung, sagt der Musiker: „Es steht auch für neue Wälle im Leben, die man überkommen muss.“ Ist das Album eine – im psychoanalytischen Sinne – Projektion innerer Konflikte, verpackt in einem Sound, der den Zu­hö­re­r:in­nen vertraut sein dürfte? Später wird Konstantin Unwohl vom Cafétisch aufstehen, ohne etwas bestellt zu haben.

„Neuer Wall“ erscheint am 26. 7., bei Tapete Records. Vorab hat Konstantin Unwohl drei Stücke auf https://konstantinunwohl.bandcamp.com veröffentlicht

Live: 11. 8., Hamburg, Kampnagel; 6. 9., Bremen, Kulturzentrum Lagerhaus