Die Zeitbombe tickt am Ostsee-Grund

Vor der Küste Schleswig-Holsteins startet zum ersten Mal weltweit der Versuch, systematisch Munition zu bergen. Wenn es glückt, ist es der Beginn eines teuren und aufwändigen Generationenprojekts

Seesterne fühlen sich auf dieser Unterwasserbombe wohl. Die Zersetzung der Bestandteile ist aber gefährlich Foto: Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung

Von Esther Geißlinger

Im Licht der Scheinwerfer sieht die Ostsee grünlich aus. Winzige Schatten huschen vorbei, ob es Fische oder Algen sind, lässt sich auf dem Bildschirm schlecht erkennen. Der Bildschirm steht an Bord der FS Alkor – die Abkürzung steht für „Forschungsschiff“ -, davor sitzen Jens Greinert, Professor für Meeresgeologie am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel und Leiter der Arbeitsgruppe Tiefseemonitoring, und ein Kollege. Der Kollege steuert den Tauchroboter, dessen Bilder auf dem Monitor erscheinen. Ein zweiter Bildschirm zeigt den Roboter, der den Spitznamen „Käpt’n Blaubär“ trägt, als kleinen blauen Fleck an.

Käpt’n Blaubärs Scheinwerferlicht erfasst eine Kiste, die auf dem sandigen Boden liegt. Ein Krebs hockt darauf, er scheint mit den Zangen zu dem Tauchroboter hinaufzuwinken. Für den Krebs sei die Kiste ein perfekter Platz, erklärt Greinert: „Etwas erhöht, fester Untergrund.“ Eine Art Mini-Riff, an dem Algen wachsen und kleine Fische Schutz suchen können.

Doch statt Sicherheit birgt die Kiste Gefahr: Sie enthält Sprengstoff, alte Munition aus dem Zweiten Weltkrieg, dessen chemische Bestandteile langsam in die See sickern. Sie werden von den Fischen und Krebsen durch die Haut und über die Atmung aufgenommen. Die Strömung transportiert die Partikel weiter, sie lagern sich in Pflanzen an, im Wasser und auf dem sandigen Untergrund. Sie erreichen auch Menschen, etwa beim Baden oder in einem Fischbrötchen. Wobei ein Fischbrötchen kein Problem ist – noch müsste ein Mensch täglich kiloweise Fisch essen, um eine Reaktion zu spüren. Doch die Gefahr wächst, je älter die Behälter werden. Bei Tieren und Pflanzen lassen sich bereits Folgen nachweisen.

Ab August soll zum ersten Mal versucht werden, die Weltkriegs-Altlasten im großen Stil aus dem Meer zu holen. Das sei etwas ganz Neues, sagt Katja Günther (Grüne), Staatssekretärin des Kieler Umweltministeriums, die an diesem Tag das Forschungsteam auf der ­Alkor besucht: „Bisher wurde nur anlassbezogen geräumt“, etwa wenn eine Pipeline gelegt werden sollte oder Schifffahrtslinien gefährdet waren. „Jetzt werden wir klären, wie man im größeren Stil bergen kann.“

Zuständig ist allerdings nicht das Land, sondern der Bund. Das Bundesumweltministerium hat ein Sofortprogramm aufgelegt, das 100 Millionen Euro umfasst. Ein Teil des Geldes geht an die drei kooperierenden Firmen „Seaterra“, ­„Eggers Kampfmittelbergung“ und „Hansataucher“. Sie werden ab Mitte August in vorher festgelegten Gebieten verschiedene Sorten von Munitionsresten bergen – Kisten, Streubomben, die in etwa die Größe und Form von Thermoskannen haben, und ­Artilleriemunition. Dabei testen sie unterschiedliche Techniken: Deckskräne mit verschiedenen Greifern, die die Kisten anheben sollen, einen ­Crawler, der mit einem Roboterarm die ­Munition unter Wasser in Körbe legt, ­sowie ferngesteuerte ­Unterwasserfahrzeuge.

Alles, was die Räumungsteams vom Grund fischen, muss an Land zerstört werden. Die Alt-Munition einfach zu sprengen, kommt nicht in Frage, weil dabei die Giftstoffe in die Umwelt entlassen würden. Daher werden die Bombenreste in die niedersächsische­ Kleinstadt ­Munster transportiert, wo die „Geka“ ihren Sitz hat. Die Geka ist eine bundeseigene Spezialfirma für die Entsorgung von Kampfmitteln.

Doch deren Kapazitäten sind begrenzt, und auch der Transport von so viel Munition über Land sei teuer und schwierig, erklärt Staatssekretärin Günther. Daher gibt es eine zweite Phase des Sofortprogramms, für die noch bis Herbst die Ausschreibung läuft. Gesucht werden Plattformen, die die Munitionsreste direkt auf See entschärfen und zerlegen – alles automatisch. Mehrere Firmen, darunter die Kieler Werft Thyssen-­Krupp Marine Systems, Spezialistin für U-Boote und sonstiges schwimmendes Kriegsgerät, bewerben sich. Für die Branche ist der Auftrag attraktiv, weit über das Sofortprogramm hinaus: In einem Positionspapier der ­„Gesellschaft für Maritime Technik“, einem Verband maritimer Unternehmen, wurde bereits 2022 die „Wertschöpfungsperspektive für die deutsche meerestechnische Wirtschaft“ durch die Bergung von Munition beschrieben.

Denn die Aufgabe ist gewaltig. Die 50 Tonnen, die die Firmen im Rahmen des Sofortprogramms vom Ostseegrund holen sollen, sind nur ein Bruchteil dessen, was dort unten liegt.Bis zu 1,6 Millionen Tonnen konventioneller Munition sind während und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg allein in den deutschen Gewässern der Nord- und Ostsee gelandet. Ein Teil stammt von britischen Flugzeugen, die beim Rückflug nicht verbrauchte Bomben über dem Meer abwarfen. Doch die meisten Bomben, Sprengkörper und Artilleriemunition haben die besiegten Deutschen selbst ins Wasser gekippt, als das Land nach der Kapitulation schnell entwaffnet werden musste. Voll beladene Schuten transportierten die Altlasten ab. Irgendwo auf See, oft noch in Sichtweite der Küste, klappten die Boote ihre Böden auf.

In der Nordsee, wo rund 1,3 Millionen Tonnen Munition vermutet werden, deckte dank der stärkeren Gezeiten Sand im Lauf der Jahrzehnte die Überreste des Krieges zu. Das wirke wie eine Schutzschicht, die die metallischen Sprengkörper schützt, ­erklärt Greinert.

Doch in der flachen Ostsee liegt das Material offen auf dem Sand und verrottet Jahr für Jahr mehr. Es ist, ganz buchstäblich, eine gigantische Zeitbombe.

Käpt’n Blaubär, der Tauchroboter, hat inzwischen die Munitionskiste verlassen und steuert das eigentliche Ziel dieser Unterwasserfahrt an: einen Torpedo. Der gut sechs Meter lange Stahlleib ist mit Algen bewachsen. Seesterne kleben auf der Oberfläche, ein Krebs bewegt sich gemächlich zur Seite. Für Jens Greinert ist der Torpedo ein alter Bekannter: Regelmäßig schaut die Alkor-Besatzung nach, wie kaputt die Hülle ist. Für die Greifroboter, die ab August in der Bucht unterwegs sein werden, ist ein Torpedo zu groß. Sollte Gefahr im Verzug sein, müsste der Kampfmittelräumdienst ans Werk. Denn poröse Torpedos könnten auftreiben und Fischernetze oder Boote gefährden.

Greinert und sein Team haben im Lauf der Jahre viele Fundstellen untersucht. Dafür sind neben dem kleinen Blaubär, der über eine Konsole gesteuert wird, mehrere autonome Tauchroboter unterwegs. Sie machen Fotos, aus denen die Besatzung genaue Karten erstellt.

„Wenn die Technik hier funktioniert, klappt es auch in anderen Gewässern“

Jens Greinert, Meeresgeologe

Mit diesem Material können die Bergungsteams arbeiten, erklärt Greinert. Die Zusammenarbeit mit den kommerziellen Firmen findet der Wissenschaftler genau richtig. Auch der Ablauf des Verfahrens sei stimmig und sinnvoll. Und Greinert sieht Hoffnungen für die Gewässer weltweit, in denen ebenfalls Munitionsreste liegen: „Andere Meere mögen tiefer oder salzhaltiger sein als die Ostsee, aber wenn die Technik hier funktioniert, klappt es auch in anderen Gewässern“, ist der Meeresforscher überzeugt.

Die gesamte Munition aus dem Meer zu bergen, ist eine Generationenaufgabe. Vor allem aber ist es teuer. Greinert schätzt, dass mehrere Plattformen rund 15 Jahre lang im Dauer­einsatz arbeiten müssten, um allein die Ostsee vom Kriegsmüll zu befreien. Lohnt sich das? Ist es überhaupt möglich?

Versuchen müsse man es zumindest, sagt Staatssekretärin Günther: „Das Land setzt sich dafür ein.“

Oben an Deck heben Besatzungsmitglieder den Tauchroboter an Bord. Seine blauen Schwimmkörper zeigen, woher er seinen Namen hat. Der Blaubär-Roboter hat nicht nur Fotos, sondern auch Wasserproben mit an die Oberfläche gebracht, die an Bord untersucht werden. Nach einer halben Stunde präsentiert der Geomar-Chemiker Aaron Beck das Ergebnis: Im Wasser sind Spuren von Hexogen zu finden, einem giftigen Sprengstoff.