Wo sich Tradition und Moderne durchdringen

Klangmuster der Gnaoua-Musik finden sich im Flamenco und im Jazz. Ein Besuch des Festivals im marokkanischen Essaouira, das das Kulturerbe mit der Gegenwart verbindet

Arabeske Form von TripHop: die marokkanische Sängerin Widad Mjama vom Duo Aïta, Mon Amour Foto: Assaoud

Aus Essaouira Julian Weber

Der Wumms der tbal genannten Fasstrommeln, das leiernde, basslastige Dengeln der Langhalslaute (gimbri) und das blechernde Klappern von Kastagnetten (qarqaba) aus Zinn: Der charakteristische Sound von Gnaoua-Musik ist unüberhörbar, auch ohne Verstärker. Dazu werden Fahnen mit fantasievollen Mustern geschwungen, die Mu­si­ke­r:In­nen tragen ebenso farbenfrohe seidene Roben mit applizierten Bordüren. Selbst die schwarzen Bommel der roten Tarbusch haben eine Funktion. Mit rhythmischen Kopfbewegungen werden sie zum Kreiseln gebracht.

Insignien der Gnaoua-Kultur haben längst Eingang in die Popkultur gefunden, Vorbild etwa für die Kostüme, die der französische Szenarist Moebius für die Originalverfilmung von Alejandro Jodorowskys Filmprojekt „Dune“ entworfen hat. Das Original hat allerdings nichts mit SciFi zu tun, es dreht sich um ein archaisches synkretistisches Ritual, bei dem Dschinns – Geister – singend, spielend und tanzend beschworen werden, damit sie nicht von Menschen Besitz ergreifen.

Dabei können sich die Mu­si­ke­r:In­nen in Trance spielen. Das aber findet nur bei den „Lilá“ genannten bis zu dreitägigen Séancen im Abgeschiedenen statt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wenn man mit eigenen Augen die alljährliche Parade von Gnaoua-Gruppen in der marokkanischen Hafenstadt ­Essaouira vorbeiziehen sieht, bekommen Musik und Tanz trotzdem eine spirituelle Dimension. Sie verbinden uralte afrikanische Kosmogonie mit vorreligiösen Sufismus-Praktiken. Klangmuster der Gnaoua-Musik finden sich auch in der DNA von Flamenco und Jazz, während Elemente des Tanzrituals ganz ähnlich im haitia­nischen Voodookult vorkommen.

Gnaoua – ein Kulturerbe, das in Marokko in Vergessenheit zu geraten drohte. Auch deshalb wurde an der nordafrikanischen Atlantikküste, in der Küstenstadt Essaouira, 1998 ein Festival ins Leben gerufen, das nun 25-jähriges Jubiläum feiert. Für die kleine Stadt sei das eine echte Erfolgsgeschichte, erklärt Naila Tazi, die Festivalproduzentin. Die Unternehmerin sitzt seit 2015 auch als Abgeordnete im marokkanischen Senat. Jeder Euro, der ins Festival investiert wird, würde 17 Euro erwirtschaften, rechnet Tazi vor und verweist auf die Infrastruktur der Stadt, neue Straßen, eine modernisierte Strandpromenade, die teil­restaurierte Medina und Hotelbetten, die für nachhaltigen und kultur­interessierten Tourismus stünden, nicht für Ballermann. Ihr Festival sei durch TV-Übertragungsrechte so quer finanziert, dass vor Ort der Eintritt zu den Konzerten für die Einheimischen umsonst ist. Jung und Alt, aber auch marokkanische Gäste und solche aus der ganzen Welt strömen deshalb Ende Juni nach Essaouira.

Die Stadt und ihre spezifische Kultur wirken seit Langem anziehend. Jimi Hendrix kam Ende der 1960er nach Essaouira, genau wie die Jazzmusiker Pharoah Sanders und Joe Zawinul, die zusammen mit Gnaoua-Musiker:Innen Alben aufnahmen. In den frühen 1970ern fand über einige Jahre ein Hippiefestival statt, das nur am Rande mit der Gnaoua-Kultur zu tun hatte. Das ist heute anders. Im Untertitel nennt sich das Gnaoua-Festival zwar „Musiques du Monde“, Gnaoua-Musik spielt aber die Hauptrolle. Die drei Festivaltage beginnen traditionell mit dem feierlichen Umzug aller Schwestern- und Bruderschaften. Tausende wohnen dem Spektakel bei. Langsam bewegt sich der Zug Richtung Stadtmauer hinein in die Medina. Jeweils angeführt von den Maalems, den Sufi-Meister:Innen, die wie Derwische den Musikern tänzelnd vorausgehen, dabei eine Strophe vorsingen, die dann von allen wiederholt wird. Entscheidend ist der Moment des Durchgangs unterm Bab-Douk­kala-Turm, wenn die Musik im Gewölbe des Stadttors erklingt und mit ohrenbetäubendem Echo in die Altstadt tönt. Die Unesco hat Gnaoua 2019 in die Liste zum immateriellen Weltkulturerbe aufgenommen.

Ihre Wurzeln liegen viel weiter südlich, in der westafrikanischen Region des heutigen Ghana, dort soll um das 7. Jahrhundert das Ritual begonnen haben. Sklaven brachten es mit, als sie im 11. Jahrhundert in das Gebiet des heutigen Marokko zu reichen Berberfamilien verschleppt wurden. Erst hier ist Gnaoua um die Ebene des Gesangs erweitert worden, der immer schon auf Amazigh, der Berbersprache, gesungen wurde. Trauer über das alte Leid der Sklaverei bildet noch heute die Basis der Musik, erklärt der Maalem Abdeslame Alikane der taz. Der 66-Jährige, dessen Großeltern einst Sklaven in der Region Essaouira hielten, hat schon mit Gilberto Gil und Peter Gabriel zusammengespielt und ist dankbar für das weltweite Interesse an seiner Kultur. Er ist aber auch erfreut, dass Gnaoua in Marokko selbst wieder zum Thema geworden ist. Gnaoua sei eine Musik des Herzens, sagt Alikane. Sie drücke heute neben der Trauer auch Freude am Dasein aus, vor allem gehe es darum, bescheiden zu bleiben. Nichts darf das Kollektiv von seiner Spiritualität ablenken. Alikane spricht von psychologischem Geschick, um den Nachwuchs zu schulen.

Junge Ma­rok­ka­ne­r:In­nen bevölkern derweil am liebsten die Konzerte der Beachstage, direkt am Strand. Auch hier werden die Abende stets von Gnaoua-Musikgruppen eröffnet. Danach treten jeweils zeitgenössische Pop­künst­le­r:In­nen auf, etwa das marokkanisch-tunesische Duo Aïta, Mon Amour. Rapperin Widad Mjama gehört der feministischen marokkanischen Cheikhas-Kultur an, so bezeichnet, weil sie sich in Songtexten gegen die Benachteiligung von Frauen wendet. Während Cheikhas-Musik eher dem Folkpop-Genre Chaabi entspricht, machen Aïta, Mon Amour eine arabeske Form von TripHop. Der tunesische Musiker Khalil Epi spielt zwischendurch elektrisch verstärkte Saz, aber meist drückt er an einem Effektpad, während seine Partnerin Widad Mjama rappt, singt und Percussion spielt. Die Fans kennen jede Zeile, singen mit und feiern das Duo frenetisch.

Faszinierend am Gnaoua-Festival ist das Durcheinander von Tradition und Moderne. Im Kulturzentrum Dar Souriri in der Altstadt finden allabendlich Konzerte im kleinen Rahmen für 80 Zu­schaue­r:In­nen statt, sodass man direkt vor den Mu­si­ke­r:In­nen Platz nimmt. Das geht vor der riesigen Mainstage „Moulay Hassan“ natürlich nicht. Dort treten große Namen auf, wie die US-Fusionjazzcombo Brecker Brothers und der afrospanische Flamenco-Superstar Buika. Direkt neben der Main­stage ist eine Moschee, die Gebetsrufe des Muezzin mischen sich manchmal mit der Musik von der Bühne.

Im Fahrwasser des Arabischen Frühlings, der im Nachbarland Tunesien begonnen hatte und sich gegen politische Eliten, aber auch gegen religiöse Bevormundung wandte, kam es in den 2010er Jahren in der konstitutionellen Monarchie Marokko zu Protesten und einer neuen Verfassung, wie Naila Tazi erklärt. In der Folge führte das Gnaoua-Festival 2012 ein „Menschenrechtsforum“ ein. Dieses Mal stand es unter dem Motto „Marokko, Spanien, Portugal. Eine Geschichte mit Zukunft“, ein Wink ins Jahr 2030, wenn die drei Länder gemeinsam die Fußball-WM der Männer ausrichten werden.

Den Ball nimmt der Keynote-Speaker, der ehemalige spanische Ministerpräsident José Luis Zapatero, dankbar auf und betont, die gesamte Region habe viele Gemeinsamkeiten und sei eine Wiege der Zivilisation. Ganz Altruist, deklamiert Zapatero: „Wir müssen selbstlos sein, um im Leben vorwärtszukommen.“ Er spricht sogar davon, dass künstliche Intelligenz dazu genutzt werden sollte, um Frieden auf Erden zu schaffen. Bald kommt der Sozialist auf die Menschenrechte zu sprechen und klagt Israel ihrer Verletzung in Gaza an, während er die Hamas mit keiner Silbe erwähnt. Nicht alle sind davon ergriffen. Die marokkanische Journalistin neben mir kritzelt Strichmännchen. In der Fragestunde nach seinem Vortrag wird Zapatero kritisch auf die negative Haltung vieler Spa­nie­r:In­nen gegen marokkanische Arbeitsmigranten angesprochen, dazu fällt ihm nichts ein.

Jimi Hendrix kam Ende der 1960er nach Essaouira, genau wie die Jazzmusiker Pharoah Sanders und Joe Zawinul

Naila Tazi betont gegenüber der taz ausdrücklich, dass Essouira – im 17. Jahrhundert unter dem Namen Mogador portugiesischer Handelsposten –, eine tolerante Stadt sei, in der Juden, Muslime und Christen seit Jahrhunderten friedlich zusammenleben. Ein bisschen panarabische Soli muss schon sein, ihr Festival hat mehrere palästinensische Künstler eingeladen, darunter den in New York lebenden Geiger Simon Shaheen, der auf dem Dach des Stadtturms Borj Bab Marrakesch spielt. Die westöstliche Fusionmusik seines Quartetts erschöpft sich schnell in allzu virtuosem Solieren. Dem Publikum gefällt genau das, darunter viele junge angloamerikanischen Frauen und Männer, manche mit Stofftaschen, auf denen ein Stück Melone abgebildet ist, nebst dem Spruch „This is not a Melon“.

Für das postkoloniale Elend, das nach Marokko importiert wird, kann das Festival aber nichts. Essaouira besticht in diesen Tagen durch widersprüchliches und zugleich gechilltes Ambiente. Und nicht zuletzt durch die Pracht der ritualistischen Gnaoua-Musik, der der Nahost-Konflikt auch in hundert Jahren nichts von ihrem Zauber wegnehmen kann.

Die Recherche zu diesem Text wurde von der Unesco unterstützt.