„Derzeit
überwiegt
der
Lärm
der Stiefel“

Corine Pelluchon, in Frankreich eine wichtige intellektuelle Stimme zu den ökologischen Herausforderungen unserer Zeit, im Gespräch über Frankreich nach und vor den Wahlen

Corine Pelluchon möchte die Idee der Aufklärung erneuern Foto: Isolde Ohlbaum/laif

Interview Tania Martini

wochentaz: Madame Pelluchon, viele Menschen sind wütend auf Macron. Er habe die Büchse der Pandora geöffnet, als er nach dem Sieg der französischen Rechtspopulisten bei der Europawahl die Nationalversammlung auflöste. Warum hat er so gehandelt? Glaubt er etwa an eine Entzauberung der Rechten durch Cohabitation?

Corine Pelluchon: Macron scheint diese Entscheidung allein und übereilt getroffen zu haben. Die Europawahlen hat er als Sanktion gegen seine Politik und seine Person interpretiert. Damit hat er Politik personalisiert. Hinzu kommt, dass Demokratie ebenso wie die Suche nach Gerechtigkeit einen Meinungsbildungsprozess erfordert. Wenn wir sehr kurzfristig ein Referendum für oder gegen die Todesstrafe organisieren würden, würden die Befürworter gewinnen! Und doch war die Abschaffung der Todesstrafe ein Fortschritt. Gerechtigkeit kann durch Mehrheiten ausgedrückt werden, sie ist aber doch mehr als die Summe von Meinungen oder Impulsen. Es fehlten die notwendigen Vermittlungen, um zu den diskutierten Themen eine fundierte Meinung zu entwickeln. Anstelle dieser Arbeit gab es Spannungen, ein massiv geteiltes Gefühl, nicht berücksichtigt zu werden. Aber dieses Gefühl und die allgemeine Unzufriedenheit sind nicht nur auf den Präsidenten Macron zurückzuführen.

Sondern?

Alle Staatsoberhäupter in allen Ländern stoßen auf dieses Problem. Denn die derzeitigen wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Veränderungen, die geopolitische und klimatische Situation, all das gibt den Menschen das Gefühl, machtlos und austauschbar zu sein. Es ist dieses allgemeine Unbehagen, das tiefe strukturelle Ursachen hat, die mit vielen Frustrationen verbunden sind, das die Rechtspopulisten ausnutzen. Sie verstärken es, indem sie die Frustrationen verschärfen. Sie suchen Sündenböcke, die beschuldigt werden, vom System zu profitieren. Das ist nicht neu. Denjenigen, die diese perversen Strategien anwenden, muss die Macht entzogen werden.

Spielen Sie auf den starken Antisemitismus an, der im Wahlkampf immer wieder eine Rolle gespielt hat?

Nein, ich spreche von einer allgemeinen Strategie der extremen Rechten. Die Juden werden die Opfer sein, aber auch die Einwanderer. Aber in dieser Kampagne hat die extreme Rechte so getan, als sei sie nicht antisemitisch, und es gab antisemitischen Äußerungen auf der linken Seite bei Mitgliedern von La France insoumise. Das Ausnutzen von Frustrationen, das die Menschen paranoid macht und sich der Suche nach den wahren Ursachen und einer echten Reformpolitik widersetzt, ist die Strategie, die es zu erkennen gilt. Denn indem sie das Unbehagen, die Wut und die Ressentiments der Bevölkerung verstärken, wird die Inkompetenz der Rechtspopulisten zu ihrer Stärke, und je irrationaler sie sind, desto besser funktioniert es.

Ist es falsch, noch immer von sogenannten Protestwählern auszugehen? Wollen die, die rechts wählen, nicht ganz bewusst rechte Politik?

Es gibt eine Minderheit von Menschen, die eindeutig faschistisch sind. Die meisten derjenigen, die heute für die extreme Rechte stimmen, sind es nicht. Aber sie werden von Leuten verführt, die das allgemeine Unbehagen ausnutzen und ihnen das Gefühl geben­, ihnen nahe zu stehen und stolz zu sein. Das Bedürfnis nach Anerkennung und die Ablehnung der arroganten Eliten erklären diese Wahl mindestens ebenso sehr wie die Probleme mit der Kaufkraft.

Warum ist die politische Mitte in Frankreich in den letzten Jahren weiter erodiert?

Wenn man durch das Land reist, Bürgermeister und Kommunalpolitiker trifft und sieht, was die Vereine in vielen Bereichen leisten, ist man erstaunt über die Kreativität im Land, über die Hingabe der Menschen. Sie tun Gutes in aller Stille. Im Fernsehen, in den großen Medien sowie manchmal auch in entscheidenden Machtpositionen sieht man hingegen übergroße Egos und Menschen, die jeden Sinn für die Rea­lität verloren haben. Die Medien in Frankreich haben ihre Rolle als Wächter und Vermittler, die das Urteilsvermögen schulen, zugunsten einer Übertreibung aufgegeben, die traurige Leidenschaften orchestriert. Natürlich führen einige Zeitungen noch Umfragen durch und spiegeln den Wunsch eines Großteils der Franzosen wider, der gerne vernünftige Debatten führt und einen Sinn für Nuancen hat. Dieser Teil der Bevölkerung weiß aber gerade nicht, was er tun soll, und ich weiß es auch nicht. Dennoch müssen sich alle, die in der Lage sind, Kompromisse einzu­gehen, um das Gemeinwohl zu sichern, organisieren, damit die Republik im Jahr 2027 nicht einer rechtsextremen Partei anvertraut wird.

Die Konstitution der französischen Präsidialdemokratie, die den Präsidenten mit sehr viel Macht ausstattet, befördert die Personalisierung von Politik und die Fixierung auf Charisma; auch der linke Mélenchon, der viele Positionen mit der Rechten gemein hat, inszeniert sich als starker Leader.

geb. 1967, ist Professorin für Philosophie an der Universität Gustave Eiffel. Sie beschäftigt sich vor allem mit Moralphilosophie, politischer Philosophie und Fragen der angewandten Ethik in den Bereichen der Tier-, Umwelt- und Medizinethik.

2020 erhielt sie für ihre philosophische Gegenwartsdiagnostik den Günther-Anders-Preis für kritisches Denken.

Zuletzt erschien von ihr im C.H. Beck Verlag das Buch „Die Durchquerung des Unmöglichen. Hoffnung in Zeiten der Klimakatastrophe“ (2023).

Diese Vorstellungswelt der Dominanz ist ungesund. Macht (potentia) ist nicht gleich Kraft (potestas), und es gibt andere Wege, als zu manipulieren und manipuliert zu werden. Diese Botschaft, wenn man so will, wird zwar immer wieder verbreitet, vor allem vom Ökofeminismus, aber derzeit überwiegt der Lärm der Stiefel. Die Tatsache, dass es gerade viele Rückschritte gibt, bedeutet nicht, dass sich bestimmte Dinge, die Fortschritt in der Beziehung zu sich selbst und zu anderen belegen, nicht durchsetzen. Sie geschehen latent und unumkehrbar und werden zu bedeutenden gesellschaftlichen Veränderungen führen. In der Zwischenzeit gibt es viele Fallen und schreckliche Bedrohungen. Und ja, in diesem Zusammenhang wäre es klug, unsere Verfassung zu ändern und dem Präsidenten der Republik weniger Macht zu geben. Außerdem sollten die Mediatio­nen, Gegen­gewichte und Gatekeeper, die die Demokratie immer braucht, neu überdacht werden.

Sie sehen sich in der Tradition der französischen Moralisten, die weniger an ethischen Leitprinzipien als an einer Analyse von Seinsweisen orientiert waren. Was gibt es aus dieser Perspektive über das Frankreich der Gegen­wart zu sagen?

Die wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Veränderungen sind fundamental. Und die Veränderungen, die vorgenommen werden müssen, um auf die Frustrationen der Menschen zu reagieren, betreffen die Neuausrichtung der Wirtschaft und die Organisation der Arbeit. Aber das soziale und demokratische Leben setzt auch eine Selbstveränderung voraus, eine Reife, die es uns ermöglicht, uns zu widersetzen, ohne uns gegenseitig abzuschlachten, und unserem Recht, alles zu tun, Grenzen zu setzen. Dies gilt vor allem in unserer Zeit, in der wir mit dem Klimawandel und Kriegen konfrontiert sind, also mit Dingen, die unsere Todesangst reaktivieren und viele unserer Gewissheiten zum Einsturz bringen. Erich Fromm sagte einmal, wenn die Menschen nicht zu einer moralischen Entwicklung gelangen, die es ihnen ermöglicht, den individuellen und kollektiven Narzissmus zu überwinden – und dazu gehört die Arbeit am Verlust, an den eigenen Grenzen, an der Endlichkeit –, dann müssten wir mit Katastrophen rechnen. Ich glaube zum Beispiel auch, dass es wichtig ist, Geselligkeit zu schaffen, sich auf Vereine zu stützen, um schädlichen Ideologien zu widerstehen. Die Atomisierung des sozialen Lebens und die Erfahrung der Dehumanisierung, die die Menschen heute machen, erklären auch die Anfälligkeit für Rechtspopulismus.

Im Französischen gibt es zwei Begriffe für Hoffnung – espoir und espérance. Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es Ihnen vor allem um espérance als eine Tugend, dem Abgründigen ins Auge zu sehen. Aber wie kommt man aus diesem politischen Abgrund, der sich gerade auftut, wieder raus?

Die Medien in Frankreich haben ihre Rolle als ­­Wäch­ter und Vermittler aufgegeben

Der Sinn für das Tragische und die Anerkennung der Destruktivität der Menschen ist notwendig. Aber es ist auch wichtig, die Liebe zur Menschlichkeit zu kultivieren, wenn man dem politischen Bösen widerstehen und verhindern will, dass der Faschismus in die Seelen eindringt. Das Böse übt eine Faszination aus, wir sollten lernen, ihr nicht nachzugeben. Ständig Politiker, Eliten und andere zu verunglimpfen, nicht mehr an die Fähigkeit des Menschen zu glauben, Gutes zu tun, gibt denjeinigen, die das Land zerstören wollen, Kraft.

Sie möchten philosophisch an die Aufklärung anknüpfen und sie erneuern. Die ist aber zurzeit auch von links stark unter Beschuss.

Alles, was ich oben gesagt habe, könnte auf die Verteidigung des Erbes der Aufklärung hinauslaufen, eine Verteidigung, die beinhaltet, die Kritik an der Aufklärung ernst zu nehmen und einige ihrer Grundlagen zu ändern, um eine neue Aufklärung zu fördern. Ich habe ein Buch über dieses Thema geschrieben („Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung“), in dem es um Antiaufklärung, Demokratie, die Herausforderungen der Ökologie und Europa geht. Es war auch ein politisches Programm. Aber die Politiker folgen heute Kommunikationsberatern und nicht Denkern. Außerdem ist es schwierig, konstruktive Ideen in die breite Öffentlichkeit zu bringen, wenn sich den ganzen Tag über auf den Fernsehkanälen dominante Persönlichkeiten gegenüberstehen. Aber wir Intellektuellen müssen Wege finden, um mehr Einfluss zu haben, und lernen, zusammenzuarbeiten.