Nicht wohnlich

Im ehemaligen Flughafen Tegel in Berlin wurde Deutschlands größte Geflüchtetenunterkunft eingerichtet.
Ein „Ankunftszentrum“ soll sie sein. Die Zustände in dieser Massenbleibe sind abschreckend

Platz zum Schlafen, ein bisschen Stauraum: ein „Wohnbereich“ im Ankunftszentrum Tegel Foto: Carsten Koall/dpa

Aus Berlin Susanne Memarnia

Das „Ankunftszentrum Tegel“ (Akuz) auf dem Gelände des früheren Flughafen Tegel ist Deutschlands größte Unterkunft für Geflüchtete, vermutlich die teuerste – und viele sagen, auch die schlechteste. Auf einer Fachtagung kürzlich im Berliner Abgeordnetenhaus war die einhellige Meinung der Flüchtlings- und Kinderrechtsexperten, der Politiker und Betroffenen, dass die Bedingungen in Tegel inhuman sind, das Leben dort krank macht – und die Einrichtung geschlossen gehört.

Doch das Gegenteil wird geschehen: Fast 4.700 Menschen leben dort zurzeit, Platz ist für 6.600 – und bis Herbst sollen noch einmal 1.000 Plätze entstehen. Es gebe keinen anderen Platz in der Stadt für die Menschen, sagen die Verantwortlichen von Politik und Verwaltung.

Man muss sich das Ankunftszentrum so vorstellen: In Terminal C, wo früher vor allem die Easyjet-Flieger abgefertigt wurden, findet nun an Schaltern die Registrierung und Befragung neu ankommender Flüchtlinge statt. Es gibt einen Pflegebereich für Bettlägerige, einen Kiosk, ein Fundbüro, eine Kleiderkammer und einen Schlafbereich für etwa 500 Menschen.

Die meisten Geflüchteten leben allerdings in weißen „Leichtbauhallen“ genannten Großzelten neben dem Gebäude. Je drei dieser „Hallen“ sind zusammengebaut, die mittlere hat einen durch Security überwachten Eingang und ist der Aufenthalts- und Essensbereich mit Info­tresen, abschließbaren Spinden, Bierbänken und -tischen. Rechts und links schließt sich eine Schlafhalle mit je 360 Betten an, die mit dünnen, nicht bis zur Decke reichenden Pappwänden und Vorhängen in „Waben“ aufgeteilt sind.

Jede Wabe enthält sieben Doppelstockbetten und ein Regal, in das aber keine 14 Koffer passen, sodass überall Habseligkeiten und Gepäckstücke herumstehen. Die Enge ist bedrückend, der Geräuschpegel hoch, Privatsphäre und Ruhe können die Bewohner hier nicht finden. Einander völlig Fremde hausen dicht an dicht, Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge, Kranke, Gesunde.

Für ein paar Tage kann man das vermutlich aushalten, und für mehr war das Akuz auch gar nicht gedacht. Im März 2022 wurde es eröffnet, kurz nach Beginn des Ukrainekrieges, um die vielen Kriegsflüchtlinge, die in Berlin ankamen, in andere deutsche Städte und Kommunen zu verteilen. Eine Überbrückung für wenige Tage sollte das Akuz sein, ein Drehkreuz für die Geflüchteten, von denen nur ein kleiner Teil in Berlin bleiben sollte.

Doch weil es viel zu wenig Wohnungen gibt in der Stadt oder „richtige“ Heimplätze, die humanitären Standards genügen, und weil immer neue Flüchtlinge nach Berlin kommen – 2024 waren es bis Ende Mai rund 4.000 Asylbewerber und 4.200 Ukrainer –, leben die Menschen immer länger in Tegel. Im Schnitt 200 Tage, manche schon über ein Jahr. Die taz hat mit einer jungen Frau aus der Ukraine gesprochen, die seit Februar 2023 in Tegel ist. „Ich komme nur zum Schlafen her“, sagt die Studentin, die aus Angst vor Ärger ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Tagsüber sei sie in Bibliotheken, um zu lernen, sie studiere weiter online an einer ukrainischen Uni. Um etwas Intimität in der Wabe zu bekommen, hängt sie manchmal ein Tuch an ihrem Bett auf. „Aber das ist verboten, die Betreuer sagen wegen Brandschutz.“

Auch Oleksandr Ishchuk, der seit September 2023 in Tegel lebt, leidet unter der Enge. Vor allem aber am Essen und der schlechten medizinischen Versorgung. Beschwerden über das Essen seien die häufigste Klage, sagte Kleopatra Tümmler, die Betriebsleiterin vom Deutschen Roten Kreuz (DRK), kürzlich bei einem Presserundgang. Ein Wunder ist das nicht, wer will über Monate Großküchenkost essen. Und für Menschen, die alles verloren haben, ist Essen nochmal wichtiger, denn das Selbstgekochte nach eigener Sitte kann ein Stück Heimat sein und Trost.

Bei Ishchuk kommt hinzu: Der 63-Jährige ist Diabetiker und hat in der Ukraine Schonkost gegessen. In Tegel bekommt er diese nicht – und steht damit nicht allein, berichtet Diana Henniges von der NGO „Moabit hilft“. „Wir hatten schon viele Diabeteskranke, Nieren- und Leberkranke in der Beratung, die alle spezielle Nahrung zu sich nehmen müssen, sie aber nicht bekommen in Tegel.“ Das Deutsche Rote Kreuz als Betreiber erklärt auf taz-Anfrage, es gebe in Tegel in der Tat keine „spezielle Diabetikerkost“, weil die deutsche Gesellschaft für Ernährung und die deutsche Diabetes Gesellschaft dies nicht empfehle, sondern „ausgewogene, abwechslungsreiche, ballaststoffreiche Ernährung“. Doch Ishchuk verträgt das Essen nicht. Er versucht sich selbst zu ernähren, aber das ist schwierig ohne Kochmöglichkeit. „Ich werde immer kränker“, sagt er und zeigt eine Wunde am Daumen, die nicht verheile – ein bekanntes Problem bei falsch eingestellter Diabetes.

Schwierig ist auch die medizinische Betreuung. Anfangs, berichtet Ishchuk, habe er seine Diabetestabletten von den Ärzten in Tegel bekommen. Es gibt dort neben dem Pflegebereich ein Erste-Hilfe-Zelt, wo tagsüber zwei Ärzte, ein Allgemeinmediziner und ein Kinderarzt Dienst tun, Tag und Nacht sind zudem Sanitäter vor Ort. „Aber nach drei Monaten hieß es, ich soll mich um meine Krankenkassenkarte kümmern und zum Arzt gehen.“ Die Karte habe ihm das Jobcenter aber erst nach 10 Wochen gegeben. Gerettet habe ihn in dieser Zeit Moabit hilft, erzählt Ishchuk. Die Helfer hätten ihm seine Medikamente besorgt und auch beim Jobcenter-Antrag geholfen.

Das Problem mit dem „Rechtskreiswechsel“ von Sozialamt zu Jobcenter haben viele Geflüchtete. In Berlin dauert es teilweise bis zu vier Monate, bis die Menschen wieder eine Krankenversicherung haben, in dieser Zeit ist Krankwerden ganz schlecht.

Kranksein ist in Tegel noch schlechter: Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, es gibt Bettwanzen, Kakerlaken und Mäuse, die Sanitäranlagen sind laut vieler Berichte oft völlig verdreckt – obwohl der Betreiber sagt, es werde mehrfach am Tag gereinigt. „Tegel ist vor allem für kranke und besonders schutzbedürftige Menschen ein regelrecht gefährlicher Ort“, sagt Henniges. Dennoch würden zum Beispiel Wöchnerinnen zwei Tage nach einem Kaiserschnitt aus dem Krankenhaus dorthin zurückgeschickt. Zwei Mitarbeiter aus dem medizinischen Bereich bestätigen das gegenüber der taz. Aus Angst vor Jobverlust wollen auch sie ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie berichten von einem Mann, der einen Tag, nachdem ihm ein Arm und ein Bein amputiert worden sei, aus dem Krankenhaus nach Tegel zurückgebracht wurde.

„Das Akuz macht krank“, sagt auch eine ehemalige Mitarbeiterin der Malteser, die bis Frühling als „Betreuerin“ in Tegel gearbeitet hat. Der Begriff sei irreführend, sagt sie, die Betreuer seien weniger zum Helfen da als zur Kontrolle, etwa ob in den Waben verbotenerweise Essen gehortet wird oder Tücher aufgehängt sind. Sie habe dies nicht mehr ausgehalten, sagt die Frau. Viele Bewohner würden mit der Zeit verzweifeln, lethargisch werden, aggressiv – oder dem Alkohol verfallen. „Es gibt wöchentlich Menschen, die mit Suizidgedanken ins Erste-Hilfe-Zelt kommen“, bestätigt einer der medizinischen Mitarbeiter. „Aber es wird nur gehandelt, wenn jemand akut suizidgefährdet ist.“

Was den Wahnsinn komplett macht: Rund 260 Euro kostet ein Platz pro Tag, insgesamt kostet Tegel laut Landesamt für Flüchtlinge 35 Millionen Euro im Monat. Der größte Batzen geht für den Betrieb der beheizbaren Zelthallen drauf, dazu kommt das Personal für Kinderbetreuung und Freizeitgestaltung, für Sprachmittlung, Infomanagement, Soziale Dienste, Pflegestation und Erste Hilfe, Catering, Putzkräfte und mehr. Insgesamt arbeiten rund 1.200 Menschen in drei Schichten in Tegel – inklusive der allgegenwärtige Security, die in buchstäblich jeder Ecke steht und über die es seit Bestehen der Unterkunft immer wieder Beschwerden von Bewohnern gab.

Die Enge ist bedrückend, der Geräuschpegel hoch, Privatsphäre und Ruhe können die Bewohner hier nicht finden

Für das viele Geld könnte man die Menschen auch in guten Hotels unterbringen, merken Kritiker immer wieder an.

Stattdessen wird das Provisorium „Ankunftszentrum“ immer wieder verlängert und weiter ausgebaut, die Politik scheint keine andere Lösung zu finden. Auch eine Schule für die Flüchtlingskinder gibt es inzwischen – ein Tabubruch, der viel Kritik hervorgerufen hat, weil man sich damit erst einmal vom Ziel, die Flüchtlinge zu integrieren und sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen, verabschiedet hat.

Sind die vielen Flüchtlinge der Grund für die Überlastung Berlins und vieler anderer Kommunen, hilft also nur noch: Grenzen dicht? Nicht wenige – Linke, Stadtsoziologen, Mieterbündnisse – sagen schon lange, das Problem sei hausgemacht und die „Flüchtlingskrise“, wie schon 2015/16, eigentlich eine „Wohnungskrise“. Ursache sei der fehlende soziale Wohnungsbau, den Bund und Länder seit Jahrzehnten vernachlässigt haben. Auch der Berliner Flüchtlingsrat fordert vom Senat seit Jahren einen massiven Ausbau von Sozialwohnungen.

Den Menschen, die jetzt im Ankunftszentrum Tegel leben, hilft das alles nicht. Um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, fordern Flüchtlingsorganisationen freien Zugang zum abgeschotteten Gelände – um sich selbst ein Bild und dann Verbesserungsvorschläge machen zu können. „Tegel ist wie Fort Knox“, sagte Henniges von Moabit. „Wenn ein Auge von außen darauf schauen würde, wäre das schon mal eine gute Kontrolle.“