„Die Ikone neu justieren“

Eine Sportlerin und ein Künstler legen jetzt zu zweit vor dem Gropius Bau das legendäre 1:0 der DDR gegen die BRD während der Fußballweltmeisterschaft 1974 wieder auf. Es geht um Underdogs, das kollektive Gedächtnis und doppelte Twists

„Der Torwart hat seine Momente der Einsamkeit“: Massimo Furlan, Re­enact­ment des WM-Fußballländerspiels DDR – BRD 1974 Foto: Sandra Singh

Interview Sophie Jung

Auf dem Parkplatz vor dem Gropius Bau kann man derzeit auf einer Halfpipe von Florentiner Holzinger skaten oder auf einer Birkenmaserknolle von Joar Nango über Strohballen hinwegschaukeln. „Radical Play­grounds“ nennt sich die interaktive Outdoor-Ausstellung, die für ein paar Wochen zeigt, wozu sich Autostellplätze noch alles nutzen ließen. Teil von „Radical Playgrounds“ ist jetzt, wo die EM langsam aufs Finale zuläuft, auch die Performance zu einem legendären Länderspiel: Der Künstler Massimo Furlan wird mit der Sportlerin Tanja Walther-Ahrens noch einmal die DDR gegen die BRD wie 1974 im Hamburger Volksparkstadion antreten lassen, nun auf dem ehemaligen Mauerstreifen zwischen Gropius Bau und Abgeordnetenhaus.

taz: Herr Furlan, Frau Walther-Ahrens, welcher ist denn der beste Part des WM-Fußballländerspiels DDR gegen BRD 1974, das Sie nun zu zweit reenacten werden?

Tanja Walther-Ahrens: Das Spannendste ist beim Fußball ja immer, wenn die Kleinen gegen die Großen gewinnen. Genau das ist bei diesem legendären Spiel passiert. Die Großen lagen plötzlich am Boden. Das zeigt sich im Sport immer wieder, dass etwas Unmögliches möglich ist, selbst wenn es sich auf dem Papier anders andeutet. Letztlich kann man nichts vorausberechnen. Das ist auch, was Fußball so beliebt macht.

Massimo Furlan: Für mich ist es die Performance selbst. Wir spielen die Dinge nicht nach, wie im Theater, wo dann ein Sujet langsam an Form gewinnt. Bei diesem Reenactment haben wir eine mentale Konzeption und nur ein einziges Mal tritt die Aktion wirklich ein. Dieser Moment, in dem etwas umkippt, gefällt mir.

Und das ist der Moment in der 77. Spielminute, als Jürgen Sparwasser von der DDR-Mannschaft den Ball schießt und Torwart Sepp Maier von der westdeutschen Gegnerseite ihn nicht aufhält?

Massimo Furlan: Es ist ein radikaler Moment.

Der Ball musste ja erst einmal zu Jürgen Sparwasser kommen, doch in Ihrem Reenactment gibt es keine weiteren Spieler, es gibt ja noch nicht einmal einen Ball. Wie können die Zu­schaue­r:in­nen überhaupt dieses Spiel verfolgen?

Tanja Walther-Ahrens: Das Publikum kann sich die originalen Radiokommentare von damals anhören. Es kann sogar selbst wählen, ob es die Berichterstattung vom Ost- oder vom Westrundfunk hört. Wer schon einmal ein Fußballspiel im Radio verfolgt hat, weiß, wie viel man sich da selbst vorstellen muss. Und so läuft das bei uns auch.

Unterscheiden sich die Spielkommentare der ost- und westdeutschen Rundfunkanstalten?

Tanja Walther-Ahrens: Die westdeutschen Kommentatoren kannten die DDR-Spieler oft nicht richtig. Sie sagten etwas über Sparwasser, aber es handelte sich um einen anderen Spieler. Umgekehrt kannten die DDR-Radiokommentatoren die Spieler der BRD genau, Paul Breitner oder Gerd Müller.

Massimo Furlan: Ja, man kann da eine gewisse Arroganz auf der westdeutschen Seite sehen.

Massimo Furlan, Sie haben als Künstler schon viele berühmte Fußballspiele reenactet, warum nun dieses Spiel Deutschland gegen Deutschland von 1974?

Massimo Furlan: Jedes Mal, wenn ich solch eine Performance in einem Land aufführe, interessiere ich mich auch für die Geschichte des Fußballs und wie sie vielleicht mit der Geschichte des Landes verbunden ist. Ich habe da natürlich als passionierter Fußballfan meine ganz eigene Erinnerung, kenne viele berühmte Spiele. Aber zuallererst rede ich mit den Leuten vor Ort. Dieses Länderspiel zwischen der DDR und der BRD 1974 habe ich 2008 zum ersten Mal im Theater der Welt in Halle reenactet.

Also Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt, in der ehemaligen DDR?

Massimo Furlan: Ja. Ich hatte vorher noch nie von dem Spiel gehört. In Halle war es Teil des kollektiven Gedächtnisses. Es ist die einzige offizielle Konfrontation zwischen zwei Deutschlands in dieser ganz besonderen politischen Situation. Und das kollektive Gedächtnis ist immer auch ein individuelles. „Ich erinnere mich“ oder „mein Vater erzählte mir“ hörte ich dann. Fußball ist mitunter eine Geschichte der Übermittlung. Man gibt vielleicht eine Leidenschaft weiter, aber auch eine Erzählung. Dieses eine Match zu rekonstruieren zeigt auch eine gesellschaftliche Veränderung. Wohin sind wir gegangen seither? Ich als Künstler versuche, aus diesem Ereignis ein Kunstwerk zu machen, das die Öffentlichkeit dann auch teilen kann.

Bei der EM treten auf sportlicher Ebene Nationen gegeneinander an. Doch bei diesem Spiel handelte es sich ja um die Mannschaften zweier politischer Systeme innerhalb eines Landes. Welche Message zog man in der DDR aus dem unverhofften Sieg?

Tanja Walther-Ahrens: Im DDR-Radio zumindest waren sie sehr froh. Für sie war es wie ein Sieg Davids gegen Goliath. Dennoch schien die Freude sehr gedämpft gewesen zu sein. Es war ja kaum DDR-Publikum in Hamburg damals. Die Leute, die da hindurften, waren sehr abgezählt.

Warum spielen Sie eigentlich den siegreichen Torschützen, Frau Walther-Ahrens?

Tanja Walther-Ahrens: Es geht auch um mich als Frau und Fußballerin. Ich mache einen Sport, der sehr männlich ist. Es ist also ein mehrfacher Twist: Die Frau, die eine eigentlich unterlegene Mannschaft vertritt, gewinnt gegen den großen Meister. Es ist für ihn sozusagen eine doppelte Niederlage.

Foto: Sandra Singh

Massimo Furlan, Jahrgang 1965, ist ein in Lausanne lebender Choreograf, Schauspieler, Performer und Schriftsteller, der sich oft mit den Verbindungen zwischen dem Spiel als Wettkampf und dem freien Spiel beschäftigt.

Massimo Furlan: Je unterschiedlicher die Protagonisten einer Geschichte sind, umso besser kann man die Geschichte erzählen.

Tanja Walther-Ahrens: Als ich anfing, Fußball zu spielen, spielte ich mit Jungs. Und wenn die Jungs plötzlich merkten: „Oh, das Mädchen hat ein Tor gemacht“, dann war es immer eine Diskussion. Das Match erinnert mich an meine Anfänge in der Fußballwelt.

Und warum sind Sie der scheiternde Torwart, Herr Furlan?

Massimo Furlan: Der minimalistischste Part eines Fußballspiels fällt auf den Torwart, er hat seine Momente der Einsamkeit. Das gefällt mir. Nur einmal passiert etwas. Sparwasser hingegen ist die ganze Zeit aktiv ist.

Ist Sepp Maier auch der Böse in diesem Match?

Massimo Furlan: Auf den alten Archivaufnahmen zum Spiel verhält er sich sehr seltsam. Zu Beginn, als die Nationalhymnen abgespielt werden, schaut er um sich, als hätte er sich einen LSD-Trip eingeworfen. Komisches, interessantes Verhalten. Gleichsam ist er Sepp Maier, also ein Monument für den Fußball. Als Torwart war er weltberühmt. Aber im Moment von Sparwassers Torschuss sind seine Bewegungen komplett falsch.

Warum wählten Sie für das Reenactmant nur diese zwei Spieler: Sparwasser und Maier?

Foto: privat

Tanja Walther-Ahrens, Jahrgang 1970, ist eine ehemalige deutsche Bundesliga-Fußballspielerin und aktive Sportwissenschaftlerin. Bekannt wurde sie auch durch ihr Engagement gegen Homophobie im (Frauen-)Fußball.

Massimo Furlan: Ich habe das Spiel auf die Antagonisten reduziert. Sparwasser ist der Held, in der DDR war er dann eine Ikone. Sepp Maier ist auch eine Ikone. Der Fußball produziert solche Figuren. Ich mag es, in meinen Reenactments auf die Ikonen zu setzen. Das sind die Figuren, die zu Träumen anregen. Als Kind habe ich mir sehr häufig die Fußballspiele im Radio angehört. Ich hörte die Erzählung und daraus hat sich eine ganze kindliche Fantasiewelt entwickelt. Und diese Fantasien nun zu rekontextualisieren – ohne Ball, nur mit zwei Spielern – lässt auch ein Verhältnis zur Ikone neu justieren.

Wie läuft die Performance technisch ab?

Massimo Furlan: Tanja und ich tragen beide Ohrhörer. Uns werden die exakten Bewegungen genannt – drei Schritte nach rechts, drei nach links. Die haben wir aus den Videoarchiven rausgefiltert.

Sie spielen das Länderspiel quasi KI-gesteuert?

Tanja Walther-Ahrens: Nun ja, das Gefühl der Underdog zu sein, der gewinnt, kann eine KI womöglich nicht so erzeugen. Solch ein psychologisches Motiv. Der Fußball, den ich spiele, ist keine Mathematik, er ist Emotion. Eine Verbindung von Körper und Geist. Wenn ich weiß, ich bin den anderen unterlegen, dann geht es nur noch mit Gefühl, mit Kampf, mit Wir-wollen.

Performance: 7./8.7, 20 Uhr, im Rahmen von „Radical Play­grounds“, Kunstparcours am Gropius Bau, bis 14. 7.