Vom Thora-Studium auf die Straße

Nach einem Gerichtsurteil müssen künftig in Israel auch Ultraorthodoxe zum Militärdienst. Dagegen protestierten am Wochenende Tausende in Jerusalem. Dem Urteil war eine lange Debatte vorausgegangen

Aus Jerusalem Lisa Schneider

In Israel endet eine jahrelange Debatte vorerst mit einem Urteil des obersten Gerichts: Junge ultraorthodoxe Männer sollen künftig Wehrdienst ableisten müssen – so wie fast alle anderen Israelis auch. Die Proteste der Gemeinschaft sind massiv: Am Sonntagabend demonstrieren in Jerusalem Tausende ultraorthodoxe Männer gegen die Maßnahme, teils mit Gewalt. Videos in den sozialen Medien zeigen unter anderem Zusammenstöße von behelmten Polizisten in voller Montur mit den Anzug, Hemd, Hut und Schläfenlöckchen tragenden Protestierenden.

Nach Medienberichten warfen die Demonstranten Steine und zündeten Mülleimer an. Die Polizei antwortete unter anderem mit dem Einsatz von sogenanntem Skunk, einer übelriechenden Flüssigkeit, die aus Wasserwerfern gesprüht wird. Mehrere Protestierende wurden festgenommen, einige Polizisten verletzt.

Der so kontrovers aufgenommene Richterspruch sieht vor, dass das Militär bereits ab 1. Juli damit beginnen soll, ultraorthodoxe Männer zum Wehrdienst einzuziehen. Diese konnten sich bisher dem Dienst entziehen, indem sie religiöse Schulen, ­Yeshivas, besuchten. Das ermöglichte es ihnen, jedes Jahr ein Dokument zu erhalten, das den Einzug zum Militär um ein Jahr verschiebt. Irgendwann wird so das Ausschlussalter erreicht, ab dem der Einzug zum Wehrdienst entfällt. Sollten Yeshivas sich nicht an die Entscheidung des Gerichts halten und weiterhin den Einzug junger ultraorthodoxer Männer behindern, soll ihnen der Staat die Finanzierung streichen können.

Damit gibt es nach Jahrzehnten der Debatten nun eine verbindliche Rechtsprechung. Schon 2017 entschied der Oberste Gerichtshof, es sei illegal und diskriminierend, dass Ultraorthodoxe sich quasi grundsätzlich dem Militärdienst entziehen können. Seitdem ist die Politik gefordert, einen verbindlichen Rechtsrahmen aufzustellen, der dem entgegenwirkt. Ein Gesetzentwurf dazu wurde zuletzt in der letzten Knesset diskutiert. Mitte Juni kam in der derzeitigen Knesset schließlich zur Abstimmung, ob der Entwurf weiterverwendet werden solle.

Die Regierungskoalition stimmte mit Ausnahme von Verteidigungsminister Yoav Gallant, Teil der Likud-Partei von Premier Benjamin Netanjahu, dafür. Das neue alte Gesetz sieht vor, dass der Einzug der Ultraorthodoxen langsam erhöht wird – gleichzeitig aber das Ausschlussalter von 26 auf 21 Jahre abgesenkt. Das Urteil kommt der Implementierung dieses Gesetzes nun zuvor.

Mit Anzug, Hemd, Hut und Schläfenlöckchen gegen die Jerusalemer Polizei

In Netanjahus Regierungskoalition sitzt unter anderem die Partei United Torah Judaism – eine Partei der Ultraorthodoxen. Auch ihre Vertreter stimmten für den Gesetzentwurf und zogen so den Ärger ihrer Kernklientel auf sich. Das Auto des United-Torah-Judaism-Politikers Yitzhak Goldknopf wurde von Protestierenden in Jerusalem angegriffen, die Polizei musste ihm zur Hilfe eilen.

Trotz dieser Spannungen scheinen die Ultraorthodoxen die Koalition nicht verlassen zu wollen – einige hatten befürchtet, andere gehofft, dass daran die Regierung zerbräche. Der israelischen Zeitung Haaretz sagte ein Ultraorthodoxer aus dem Politbetrieb: „Wir verlassen die Regierung, und dann? Wir haben keine Chance, als zu bleiben.“

Wie genau das Militär die Ultraorthodoxen nun einziehen will, ist noch offen. Das Gericht spricht von mindestens 4.200 jungen Männern, die pro Jahr in den Dienst treten sollen. Nach Angaben der Times of Israel könnten theoretisch insgesamt 63.000 Dienstpflichtige eingezogen werden.