Der globalisierteKrieg

Kein Land ist stärker mit Sanktionen belegt als Russland. In russischen Waffen, die im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden, stecken aber Bauteile aus aller Welt – oft auch aus Deutschland

Von Jean-Philipp Baeck
und Anne Fromm
(Texte) und Oliver Sperl (Illustrationen)

Von der iC Haus GmbH aus Bodenheim fanden sich Mikroschaltkreiskomponenten im Ka-52 Alligator sowie in dem 122-mm-Rakentensalven-Feuersystem 9K51 Tornado-G.

Auf taz-Anfrage erklärte die iC Haus GmbH, sie habe den Weg der Teile nachvollziehen können. Es handele sich um Dual-Use-Materialien, die im industriellen und nicht im militärischen Temperaturbereich angeboten würden. Sie seien 2012 und 2013 nach Russland geliefert worden. Seit Februar 2022 liefere man nicht mehr nach Russland. Man verlange von Distributoren, den Verbleib der Waren zu kontrollieren.

Als am 5. Oktober 2023 um 13.15 Uhr im Dorf Hrosa in der Region Charkiw die Rakete einschlägt, erlebt die Ukraine den bis dahin opferreichsten Angriff des Jahres. Getroffen werden ein Lebensmittelgeschäft und ein Café. Das Café ist voll, eine Trauerfeier für einen gefallenen Soldaten findet gerade darin statt. 59 Menschen sterben, darunter ein sechsjähriges Kind. Internationale Medien schreiben, der Angriff habe das Dorf quasi „ausradiert“.

Die Rakete, die an diesem Tag über Hrosa niedergeht, gehört zu den modernsten des russischen Militärs: ein Marschflugkörper des Typs Iskander-K. Er ist knapp acht Meter lang, fliegt bis zu 500 Kilometer weit und kann mit bis zu 500 Kilo Munition beladen werden, mit konventionellen oder Atomgefechtsköpfen. Entwickelt wurde der Raketentyp vom staatlichen russischen Unternehmen KB Maschinostrojenija. Ausgestattet ist er mit einem Radarhöhenmesser und einem Satellitennavigationssystem – und mit jeder Menge Technik aus Schweden, Japan, der Schweiz, den USA und Deutschland. Komponenten von Toshiba finden sich darin, genauso wie von Texas Instruments oder der deutschen Firma Harting aus Nordrhein-Westfalen. So hat es der ukrainische Militärgeheimdienst HUR recherchiert.

Von Infineon fand sich ein Microcontroller, also ein Computerchip, im Kampfhubschrauber Ka-52 Alligator. Zudem entdeckte der ukrainische Militärgeheimdienst Transistoren, Konverter und Chips in Kampf- und Aufklärungsdrohnen sowie in dem 122-mm-Rakentensalven-Feuersystem 9K51 Tornado-G und der Trägheitsmesseinheit der Rakete 9M544 MLRS Tornado-S.

Gegenüber der taz erklärte Infineon, man habe umfassende Maßnahmen ergriffen, um die Sanktionen zu befolgen. Verträge beinhalteten Klauseln zur Einhaltung der einschlägigen Exportkontrollvorschriften. Lieferpapiere enthielten einen Verweis auf das Verbot zur Weiterlieferung nach Russland. Man überprüfe die Umsetzung. Nach Februar 2022 habe man Lieferungen nach Russland gestoppt und beschlossen, die Landesgesellschaft in Russland aufzulösen.

Die ukrainischen Behörden entdecken immer wieder Bauteile westlicher Firmen in russischen Waffen, Panzerfahrzeugen und militärischer Ausrüstung. Der Geheimdienst listet diese Teile auf einer Webseite öffentlich auf: Sie stammen aus 31 Ländern, darunter auch Nato- und EU-Staaten.Aus Deutschland finden sich 29 Unternehmen auf der Liste. Deutsche Technik steckt demnach in russischen Aufklärungsdrohnen wie der Orion-10 und der Granat-4, in Angriffsdrohnen der Typen Lancet, Shahed und Lastochka-M, in einer ballistischen Rakete vom Typ KN-23/KN-24, in Grad-Raketen, in Kommunikationstechnik, in gepanzerten Fahrzeugen wie einem ZSA-T Linza und im Kampfhubschrauber Ka-52 Alligator.

Von der Würth Elektronik eiSos GmbH & Co. KG fand sich ein Induktor in der Shahed-136-Drohne. Weitere Elektronikteile waren in der Drohne Corsair sowie im Funkstörsender R-330 BMW verbaut. Würth Elektronik erklärte der taz, dabei handele es sich um „Bestandsware“ und „Standardprodukte“, die bereits vor der Verhängung von Sanktionen geliefert worden seien. Die Produkte seien nicht für militärische Zwecke konstruiert und im freien Handel auf dem Weltmarkt erhältlich. „Nach Beginn des Krieges in der Ukraine“ habe die Würth-Gruppe die Belieferung der russischen Gesellschaften eingestellt. Die Würth Elektronik eiSos Gruppe liefere auch keine Produkte nach Iran.

Seit der russischen Invasion in die Ukraine ist der Export von Rüstungsgütern und solchen, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können – sogenannten Dual-Use-Güter –, nach Russland sanktioniert. Warum finden sich trotzdem deutsche und westliche Bauteile in russischen Waffen auf dem ukrainischen Schlachtfeld?

Von der TDK Electronics AG (vormals EPCOS) aus Münschen fanden sich ein Übertrager (Trafo) und ein Aluminium-Elektrolyt-Kondensator in Shahed-136-Drohnen, sowie weitere Bauteile in Drohnen der Typen Granat-4, Orlan-10 und Latoschka-M.

Laut TDK handele es sich um Standardprodukte, die zum Beispiel in Industriemaschinen, Autos und Stereoanlagen verbaut würden. Bei einzelnen Teilen war für TDK nachvollziehbar, dass diese nur bis 2014 gefertigt wurden. Die Firma habe die Lieferung nach Russland im Februar 2022 eingestellt und 2023 das Vertriebsbüro in Moskau geschlossen. Man nehme die Verantwortung sehr ernst und sei regelmäßig mit Experten im Gespräch. Kleinbestellungen bei Distributoren ließen sich in Bezug auf die endgültige Verwendung dennoch nicht vollständig nachverfolgen.

Die taz hat alle aufgelisteten deutschen Unternehmen um eine Stellungnahme gebeten. Die Antworten ähneln sich: Keines der Unternehmen will willentlich zum Krieg gegen die Ukraine beigetragen haben. Viele verweisen darauf, dass sie ihr Russlandgeschäft nach der Invasion im Februar 2022 eingestellt haben, dass es sich um ältere Bauteile handelt, um Massenware, die millionenfach in die Welt exportiert wird oder um Standardtechnik, die auch in Haushaltsgeräten wie Waschmaschinen verbaut ist.

Von Bosch fand sich ein Schalterknopf in einer Shahed-136-Drohne. Ebenso sind laut ukrainischem Geheimdienst diverse Komponenten von Bosch in dem gepanzerten Fahrzeug KamAZ-63968 Typhoon-K verbaut, darunter eine Hochdruckkraftstoffpumpe und ein Starter. Im Spezialfahrzeug ZSA-T Linza fand sich ein Anlasserrelais und ein elektrischer Schalter. Bosch antwortete nicht auf Anfrage der taz.

Die Firma Harting, deren Teile die Ukrainer unter anderem in dem Marschflugkörpersystem Iskander-K fanden, erklärte der taz: „Wir haben uns zu jeder Zeit an alle Sanktionsvorgaben gehalten und alles dafür getan, unseren Sorgfaltspflichten nachzukommen.“ Bei den Leiterplattensteckverbindern, die in einer Iskander-K gefunden wurden, handele es sich um „standardisierte, millionenfach hergestellte Commodity-Produkte“.

Von Schaeffler aus Herzogenaurach fand sich ein Kugellager in einer Shahed-136-Drohne. Ein Foto des ukrainischen Geheimdienstes zeigt das Teil mit der Bezeichnung „FAG 6005 -2Z-C3 Korea 0297“. Der Wälzlagerhersteller FAG Kugelfischer aus Schweinfurt ist 2005 in der Schaeffler Group mit Sitz in Herzogenaurach aufgegangen. Die Marke FAG blieb bestehen. Schaeffler antwortet nicht auf Anfrage der taz.

Harting konnte die Produktionscodes der vom Militärgeheimdienst HUR gezeigten Komponenten zurückverfolgen: Sie stammten aus den Jahren 2007, 2011 und 2012, also lange vor der russischen Invasion in die Ukraine und den westlichen Sanktionen gegenüber Russland. Allerdings enthält die Auflistung des ukrainischen Geheimdienstes auch Artikel anderer Firmen, die eindeutig nach dem Februar 2022 produziert und nach Russland gelangt sein müssen – und damit einen Sanktionsbruch darstellen können.

Von Pierburg (Rheinmetall) fand sich eine elektrische Kraftfahrpumpe in einer Shahed-136-Drohne. Die deutschen Zollbehörden hätten Rheinmetall im Januar 2024 darüber informiert, dass Pumpen nach Russland gelangt seien, schreibt ein Sprecher von Rheinmetall auf taz-Anfrage. Sie seien im Juli 2020 für die zivile Nutzung produziert worden und dienten als Auto-Ersatzteile. Dass die Pumpen in Drohnen verwendet würden, habe Rheinmetall von den Behörden erfahren. Wie sie dahin gelangt seien, wisse Rheinmetall nicht. Das Unternehmen betreibe sehr viel Rechercheaufwand, um auszuschließen, dass Kunden oder Neukunden die Sanktionen umgehen.

Benjamin Hilgenstock ist Sanktionsexperte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Ökonom an der Kyiv School of Economics. Für ihn beweisen die gefundenen Bauteile, dass Russland seinen Krieg auf Basis westlicher Komponenten führe. Er hat mit Kollegen zusammen Handelsströme nach Russland ausgewertet und dabei festgestellt, dass Russland heute noch genauso viel Geld für den Import kriegswichtiger Güter ausgibt wie vor dem Februar 2022. Allerdings zahle Russland für die einzelnen Güter mittlerweile erhebliche Aufschläge, sodass es de facto weniger dieser Teile importiert. Es brauche mittlerweile auch länger, Bauteile zu besorgen – und diese hätten teils auch eine schlechtere Qualität. Dennoch, sagt Benjamin Hilgenstock, gelangten immer noch viel zu viele dieser Bauteile nach Russland. „Wenn diese Bauteile nicht so leicht nach Russland kämen, wäre es für Russland schwieriger, diesen Krieg zu führen.“

Von den Firmen R&G Faserverbundwerkstoffe GmbH aus Baden-Württemberg und Göttle Advanced Products GmbH & Co. KG aus Bayern könnte der Verbundstoff Epoxidharz in Shahed-136-Drohnen verwendet worden sein. Das legen Recherchen ukrainischer Medien nahe. Die beiden Unternehmen sollen auch nach Invasionsbeginn in den Jahren 2022 und 2023 das Epoxidharz an die russische Firma LLC Composite Products geliefert haben. Diese soll mit russischen Militärfirmen verbunden sein und Epoxidharze für den Bau der Drohne geliefert haben. Auf taz-Anfrage erklärte R&G, man habe keine Anhaltspunkte dafür, dass R&G-Produkte für militärische Zwecke verwendet wurden. Trotzdem habe R&G vorsorglich seine Geschäftsbeziehung mit der russischen LLC Composite Products beendet. Die Firma Göttle Advanced Products antwortete nicht auf die taz-Anfrage.

Einige westliche Firmen machten es sich zu leicht mit der Behauptung, sie könnten nicht kontrollieren, dass ihre Ware nicht in Russland lande, sagt Hilgenstock. „Jede Lieferkette lässt sich kontrollieren, wenn man es nur will.“ Von der These, dass gefundene Komponenten in Russland aus Haushaltsgeräten ausgebaut werden könnten, hält er nicht viel. Die meisten Teile seien über Länder wie China oder Kasachstan noch einfach und direkt zu kaufen und die Hersteller wüssten das.

Von der Knorr-Bremse AG aus München fanden sich ein Bremssystem, Bremsscheiben, -kammern und Dämpfer im KamAZ-63968. Zudem waren laut ukrainischem Geheimdienst auch Bremssättel und -pneumatikkammern von Knorr-Bremse im militärischen Rettungswagen ZSA-T Linza verbaut.

Knorr-Bremse antwortete der taz, man sei mit der ukrainischen Seite in Kontakt. Nach eigenen Angaben hatte die Firma mit dem russischen Fahrzeughersteller Kamaz ein Gemeinschaftsunternehmen namens „Knorr-Bremse KAMA Systems for Commercial Vehicles“. Knorr-Bremse sei daraus Mitte Mai 2022 ausgestiegen. Zeitgleich seien sämtliche Lieferbeziehungen beendet worden. Knorr-Bremse habe sich „von Anfang an klar gegen den russischen Angriffskrieg positioniert“.

Von Firmen der ZF Group aus Friedrichshafen fanden sich Bauteile für die Servolenkung (von ZF Boge Elastmetall und ZF Lenksysteme) im KamAZ-63968. Im gepanzerten Militärrettungsfahrzeug ZSA-T Linza fanden sich zudem Schaltgetriebe, ein Verteilerkasten und diverse Schalter von ZF Friedrichshafen.

Auf Anfrage der taz erklärte ZF: Ob die erwähnten Bauteile aus dem Unternehmen stammten und in russischem Militärgerät eingesetzt wurden, sei nicht ohne Weiteres zu beurteilen. Anhand der Namen ZF Boge Elastmetall und ZF Lenksysteme lasse sich aber darauf schließen, dass die Produkte vor 2014 hergestellt wurden. Die Markenbezeichnung ZF Boge Elastmetall werde seit 2010 nicht mehr verwendet. Seinen Anteil an der ZF Lenksysteme GmbH habe ZF 2015 verkauft. ZF habe seit Beginn der Krim-Annexion angeordnet, keine Güter für eine militärische Verwendung nach Russland zu liefern, sowie nach Februar 2022 alle direkten und indirekten Lieferungen nach Russland einzustellen.

Hilgenstock verweist auf die Finanzbranche: Genauso wie es den Banken mittlerweile gelingt, ihre Finanzströme nachzuvollziehen, müssten auch Unternehmen ihre Lieferketten überwachen. Dazu gehöre auch, dass die Unternehmen ihre Vertriebspartner und Zwischenhändler besser kontrollierten.

Das ist es auch, was die Ukraine mit ihrer Auflistungen erreichen will: Die Unternehmen sollen öffentlich unter Druck gesetzt werden, ihre Lieferketten zu untersuchen. Und die westlichen Staaten sollen ihre Exportkontrollen verbessern.

Von der Firma Mann-Filter aus Ludwigsburg findet sich ein Kraftstofffilter im KamAZ-63968. Dieser Filter sei ein Standardprodukt und für Landmaschinen vorgesehen, schreibt eine Unternehmenssprecherin auf taz-Anfrage. Mann-Filter habe alle Lieferungen für den russischen Markt eingestellt, die Teile könnten aber weltweit über Händler auf dem freien Ersatzteilmarkt bezogen werden. Man wirke auf die direkten Handelspartner ein, die Produkte nicht nach Russland zu liefern. Aber man habe keine Möglichkeit, auf weitergehenden Warenverkehr der Produkte Einfluss zu nehmen.

Kampfhubschrauber Ka-52 Alligator

Illustration: Oliver Sperl

Der Kamow Ka-52 Alligator gilt als einer der modernsten Kampfhubschrauber der Welt. Russische Truppen setzten ihn zuletzt aus sicherer Entfernung hinter den eigenen Linien ein, von wo aus er vor allem gegen Panzer effektiv ist. Gebaut wird der Ka-52 im ostrussischen Arsenjew, er hat einen Wert von rund 15 Millionen Euro. In einem Ka-52 fand der ukrainische Militärgeheimdienst Bauteile aus China und sieben weiteren Staaten, darunter die Nato-Mitglieder Frankreich, Niederlande, USA und Deutschland.

Angriffsdrohne Shahed-136

Illustration: Oliver Sperl

Die Shahed-136 ist eine Drohne iranischer Bauart. Sie wird auch als „Kamikazedrohne“ bezeichnet, weil sie als Ganzes auf ein Ziel stürzt. Laut dem britischen Verteidigungsministerium setzt Russland die iranischen Drohnen seit August 2022 gegen die Ukraine ein. Die Shahed-136 kam auch beim Angriff des Iran auf Israel im April 2024 zum Einsatz. Die Drohnen sind relativ günstig herzustellen, Experten nennen einen Produktionspreis im Iran von rund 45.000 Euro. Der Iran soll die Drohnen zu einem deutlich höheren Preis an Russland verkaufen. Dort werden sie mittlerweile auch selbst hergestellt. In Shahed-136-Drohnen fand der ukrainische Militärgeheimdienst Komponenten aus dem Iran und China – aber auch aus neun westlichen Staaten, darunter aus den USA und Deutschland.

Gepanzertes Fahrzeug KamAZ-63968 Typhoon-K

Illustration: Oliver Sperl

Der KamAZ-63968 Typhoon-K ist ein gepanzerter Transporter für bis zu 16 Soldaten. Er soll auch gegen Minen schützen. Gebaut wird das Fahrzeug vom Hersteller Kamaz in der russischen Teilrepubik Tatarstan. Der ukrainische Militärgeheimdienst fand in einem KamAZ-63968 Bauteile aus 17 Staaten der ganzen Welt, darunter Israel, USA, Frankreich, Dänemark und Deutschland und weiteren Nato- und EU-Länder.