Die Flut als Erlösung

Dürre, Hitze, Überschwemmungen – und trotzdem kaum Klimaschutz. In unserem Autor weckt das die Sehnsucht nach einer Katastrophe, die den Weg frei macht für radikale Klimapolitik. Doch darin liegt ein gefährliches Missverständnis

Juni 2024: Menschen betrachten ­das Hochwasser im bayerischen Reicherts­hofen Foto: Foto:Maximilian Mann für zeit online/laif

Von Mitsuo Iwamoto

Da ist eine leise Hoffnung, die mich nach jeder Naturkatastrophe beschleicht. Wenn in Brandenburg die Wälder brennen, die Ahr über ihre Ufer tritt und in Süddeutschland ganze Dörfer unter Wasser stehen, dann frage ich mich: Reicht es diesmal vielleicht dafür, dass endlich genug Menschen die Klimakrise ernst nehmen? Dass sie anfangen, zu handeln? Zuhause, auf der Arbeit, politisch?

Nach dem jüngsten Hochwasser sprach der bayerische Ministerpräsident Markus Söder davon, dass man sich dem Thema Klimaschutz jetzt „noch viel stärker“ widmen müsse. Und Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, man dürfe die Aufgabe, den menschengemachten Klimawandel aufzuhalten, „nicht vernachlässigen“. Und trotzdem geht wohl auch diese Flut zurück, ohne dass ein Klimaruck durch Deutschland geht.

Denn während die Auswirkungen der Klimakrise immer näher an uns heran rücken, wirkt die reale Klimapolitik derzeit wie eine Serie an Rückschlägen. Handwerkliche Fehler wie beim Heizungsgesetz führen zu gnadenloser Kritik, kleinste Verbesserungsvorschläge beim Klimaschutz wie bei der geplanten Streichung der Agrardiesel-Subventionen zu wochenlangen Protesten der betroffenen Bauern.

Ein Großteil der Deutschen klammert sich an die fossile Normalität. Und belohnt Politiker:innen, die ihnen vermitteln, dass die Probleme, die sich mit immer mehr Wucht in unser Leben drängen, wahlweise gar nicht so dringend, gar nicht so ernst oder gar nicht unsere Verantwortung sind. Diese Denkweise zeigt sich in den jüngsten Wahlergebnissen: Bei der Europawahl überzeugten die Grünen und klimaprogressive Kleinstparteien nur noch knapp 17 Prozent der Wähler:innen, während sich 16 Prozent für die AfD und 30 Prozent für die Union entschieden.

Brauchen wir also eine größere Katastrophe? Ein Ereignis, in der Wirkung so groß wie Tschernobyl oder Fukushima, das uns unsere Umweltsünden so eindeutig vorhält, dass es uns endlich zur ökologischen Vernunft treibt?

Zugegeben, das ist eine düstere Vorstellung, doch sie hat eine theoretische Grundlage: Wenn wir Extremwetter am eigenen Körper oder im eigenen Umfeld erfahren, verringert sich die psychologische Distanz zu dem abstrakten Thema Klimakrise. Weil wir die Gefahr unmittelbarer wahrnehmen, steigt unsere Motivation zu handeln.

Wie sehr sich der Effekt jedoch in der politischen Realität niederschlägt, ist in der Forschung umstritten. Zwar beschreibt eine europäische Studie einen Zusammenhang zwischen dem Erleben von Wetterextremen und dem Umweltbewusstsein in der Region und sogar dem Stimmenanteil von grünen Parteien bei EU-Parlamentswahlen. Aber gleichzeitig fanden Forscher nach der Flut im Ahrtal heraus, dass das Thema Klimawandel für die lokale Bevölkerung nur für kurze Zeit an Relevanz gewann. Die Datenlage sei gemischt, fasst eine Meta-Studie zusammen, die 73 wissenschaftliche Arbeiten zum Thema analysierte.

Es mangelt nicht an Angst

Genau wie Massenschießereien in den USA nicht direkt zu strengeren Waffengesetzen führen, werden wohl auch Naturkatastrophen in Deutschland nicht unmittelbar für stärkeren Klimaschutz sorgen. Unvergessen bleibt da die Reaktion des damaligen CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet auf die Flut im Ahrtal, in der er seine Klimapolitik mit dem Satz verteidigte: „Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“.

Wer Extremwetter persönlich erlebt, hat vor allem erst einmal eines: Angst. An Angst mangelt es schon lange nicht mehr. Seit Jahren zeigen Studien, dass die Sorgen vor der Klimakrise und der Zukunft insgesamt zunehmen.

Vor allem die 14- bis 29-Jährigen in Deutschland werden von Jahr zu Jahr pessimistischer. In ihrer Sorge um ihre eigene wirtschaftliche Zukunft und über gesellschaftliche Herausforderungen wie den Schutz der Umwelt wenden sie sich dabei verstärkt rechten Parteien zu, wie die Europawahlen und eine im April veröffentlichte Studie der Hertie School in Berlin gezeigt haben.

Das Ausmaß der Klimakrise überfordert und lähmt. Und so scheint das Heilsversprechen einer Katastrophe bib­lischen Ausmaßes für mich zwar verlockend – aber es bleibt eine Erlöserfantasie. Im schlimmsten Fall lenkt sie uns von den realen Herausforderungen im Hier und Jetzt ab.

Aber wenn Naturkatastrophen und extremer werdendes Wetter nicht die Wende bringen, was dann?

Im Kern liegt die Lösung dort, wo auch das Problem seinen Ursprung hat: in der Angst. Denn anders als oft vermutet, geht es heute kaum noch darum, Menschen davon zu überzeugen, dass die Klimakrise ein ernstes Problem ist. Auch wenn wir systematisch unterschätzen, wie sehr unsere Mitmenschen die Klimakrise besorgt: Die allermeisten von uns haben bereits heute ein hohes Problembewusstsein. So gaben 2022 in einer Studie des Umweltbundesamtes 85 Prozent der Befragten an, dass sie Trockenheit und Dürren als Folge des Klimawandels wahrnehmen, 83 Prozent sehen auch Starkregen und Hochwasser als Folge. Fast alle Befragten befürworten einen umwelt- und klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft.

Es geht also darum, wie es uns gelingen kann, die real existierenden Sorgen und Ängste in Handlungen zu übersetzen. Deshalb führt an einer Sache kein Weg vorbei: Wir müssen miteinander über die Klimakrise sprechen. Im Wohnzimmer, im Büro, im Parlament. Und bei all ihren Schrecken bieten Fluten und Hitzesommer dafür einen möglichen Einstieg.

Laut dem Kommunikationswissenschaftler Josh Ettinger bergen persönliche Gespräche ein Potenzial, welches in der Einbahnstraßen-Kommunikation durch Wissenschaft und Medien fehlt. Sie können Räume öffnen, in denen nicht nur Fakten kommuniziert werden, sondern auch über Erfahrungen und Gefühle gesprochen wird. Diese Gespräche bilden die Basis, auf der dann gemeinsame Handlungsoptionen erkundet werden können.

Ein Beispiel dafür, wie aus Gesprächen Handlungen entstehen, ist die Geschichte des US-Klimavorkämpfers Bill McKibben. Nachdem er die Umweltorganisation 350.org mitaufgebaut hat, organisiert er heute Se­nio­r:in­nen in der Bewegung Third Act. Das Ziel: Die finanziellen und zeitlichen Ressourcen der über 60-Jährigen zu mobilisieren, um Druck gegen Kohle- und Gasprojekte und für den Ausbau der Erneuerbaren zu machen. Knapp 70.000 Freiwillige zählt die Bewegung mittlerweile.

Bei all ihren Schrecken bieten Fluten und Hitze einen möglichen Gesprächseinstieg

Die herabstürzende Kaffeetasse

Und wem die jüngsten Rückschläge die Hoffnung trüben – dass es auch beim Klima plötzlich und schnell zu Veränderungen kommen kann, zeigt das Konzept der sozialen Kipppunkte. Damit beschreiben Sozialwissenschaftler:innen, wie auch Minderheiten in einer Gesellschaft Dynamiken anstoßen können, die ein soziales System in einen neuen Zustand versetzen. Diesen plötzlichen Zustandswechsel kann man sich vorstellen wie eine Kaffeetasse, die man langsam über den Tischrand schiebt. Lange scheint es so, als passiere nichts. Bis die Tasse plötzlich abstürzt.

For­sche­r:in­nen haben bereits mehrere Kipppunkte identifiziert, von denen einige gar nicht mehr so weit entfernt erscheinen. Im Energiesystem ist der Zeitpunkt erreicht, wenn es für alle Akteure lukrativer wird, in erneuerbare Energien zu investieren als in fossile. Im Bankensektor dann, wenn die Angst vor gestrandeten Vermögenswerten so groß wird, dass klimaschädliche Investitionen zum Anlagerisiko werden. Bei sozialen Normen, wenn klimafreundliches Verhalten zur anerkannten Regel in einer Gesellschaft wird.

Die nächste Flut wird kommen, ohne Zweifel. Die Vorstellung, dass sie die Klima­wende bringen wird, mag mein persönliches Wunschdenken bleiben. Aber zumindest wird uns jedes durch sie angestoßene Gespräch auch den ­positiven Kipppunkten ein bisschen näher bringen.