Risse im Uran-Rohr

AUS DUBLIN RALF SOTSCHECK

Es bestehe kein Grund zur Beunruhigung, sagte Barry Sneldon, und wenn ein Mann in seiner Position so etwas behauptet, ist höchste Besorgnis angebracht. Sneldon ist Geschäftsführer der unfallträchtigen Atomanlage Sellafield im Nordwesten Englands. In der dortigen Thermaloxid-Wiederaufbereitungsanlage (Thorp) sind in einem Zeitraum von neun Monaten rund 83.000 Liter eines hochaktiven Uran-Plutonium-Gemischs ausgetreten, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Das Material, das aus deutschen Atomkraftwerken stammte, hätte für 20 Atombomben ausgereicht.

Es ist die schwerste Panne in einem britischen Atomkraftwerk seit 13 Jahren, als ebenfalls in Sellafield ebenfalls ein Leck aufgetreten war. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) in Wien hat den Vorfall als Stufe 3 – auf einer Skala von 0 bis 7 – eingeordnet. In den vergangenen zehn Jahren ist nur der Unfall im japanischen Tokinawa 1999 schlimmer bewertet worden.

Wie der Independent on Sunday gestern berichtete, leckte ein defektes Rohr in Sellafield wahrscheinlich bereits seit August, mindestens jedoch seit Januar. Trotz verschiedener Warnzeichen fiel das den Angestellten erst Mitte April auf – im britischen Wahlkampf. Deshalb verschwieg die Regierung das Ausmaß des Unfalls und der Schlamperei.

Das Rohr sei aufgrund eines Konstruktionsfehlers geplatzt, erklärte Sneldon. Die Ingenieure hatten nicht bedacht, dass das Rohr zu einem Tank führt, der als Waage fungiert und sich je nach Füllmenge nach oben und unten bewegt. Deshalb war das Rohr besonderen Strapazen ausgesetzt. Eine Gefahr für die Umwelt habe aber zu keiner Zeit bestanden, behauptete Sneldon, da das radioaktive Gemisch in einen Auffangbehälter geflossen sei. „Die Anlage befindet sich in einem sicheren, ruhenden Zustand“, sagte er.

Ihr Bau war von Anfang an umstritten. Als Thorp 1994 endlich die Arbeit aufnahm, war die Anlage bereits überflüssig: Die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine profitable Operation hatten sich längst verändert. Als die Labour Party 1997 an die Macht kam, verhinderte PremierTony Blair die öffentliche Untersuchung, die er im Wahlkampf versprochen hatte.

Die ehemalige Sellafield-Betreiberfirma British Nuclear Fuels (BNFL) ist nicht zuletzt wegen Thorp seit 2001 eigentlich bankrott. Das Unternehmen hat mehr als 40 Milliarden Pfund Schulden. Deshalb musste es am 1. April dieses Jahres das rund zehn Quadratkilometer große Sellafield-Gelände an die staatliche Atomabwicklungsbehörde abtreten, die als Gegenleistung die Verbindlichkeiten übernahm.