Michael Cullen wird 85: Gebaute Demokratie

Der Architekturhistoriker Michael Cullen hat sich für die gläserne Kuppel und die Verhüllung am Reichstag stark gemacht. Nun feiert er Geburtstag.

Michael Cullen bei der Verleihung des Henry-Kissinger-Preises in der American Academy am Wannsee 2017 Foto: Eventpress Golejewski

Der Reichstag bei seiner Verhüllung im Jahr 1995 Foto: Wolfgang Kumm/dpa

BERLIN taz | Kuppel ist nicht Kuppel. Aber jede Kuppel ist ein politisches Signal. Erzählt Michael Cullen beim geliebten italienischen Essen, der aus Brooklyn stammende Berliner Architekturhistoriker, weit ausschweifend und schöpfend aus der Fülle eines immensen bau- und kulturhistorischen Wissens. Den Erbauern der Kuppel des Berliner Schlossfassadennachbaus wird etwa mit aller Leidenschaft vorgeworfen, rechtsreaktionär und evangelikal den öffentlichen Raum beanspruchen zu wollen.

Mag sein, mag nicht sein. Norman Fosters gläserne Kuppel des Reichstags jedenfalls gilt sicherlich als Musterbeispiel einer modernen, demokratischen Symbolarchitektur. Sie ist auch Cullens Kind. Er machte dem Bundestag in den 1990ern klar: Eine Kuppel kann sein, wenn es um Machtarchitekturen geht. Aber sie muss nicht steinern werden. Jede Zeit hat ihre Kuppel.

Vor fast genau 60 Jahren kam Cullen nach West-Berlin. Philosophie, Geschichte und russische Philologie hatte er in New York studiert, als Übersetzer gearbeitet, 1962 beim amerikanischen Radio Free Europe in München volontiert, dann kurz an der Columbia-University studiert, Englisch in Hannover gelehrt. Aber West-Berlin zog ihn an, die damals wohl, erzählt er, ziemlich morbide und zugleich extrem lebendige Stadt, die unter dem wortgewaltigen Willy Brandt zum Testgelände für alle denkbaren Avantgarden wurde. Einer der Helden Cullens.

Sofort nach seiner Ankunft 1964, die Mietpreise waren kaum relevant, eröffnete er die Galerie Mikro im Wedding. Avantgardekunst mitten im verrottenden Arbeiterviertel – ein typisch New Yorker Konzept. Gemälde und Skulpturen etwa von Gerd Winner, Mario Cravo, Lesungen mit dem schon berühmten W. H. Auden oder Günter Grass, der zur gleichen Zeit in Friedenau lebte. Ein Jahr voller Aufregung, dann musste Michael ins Militär, kam aber schon 1967 zurück nach West-Berlin, gründete die Galerie in Charlottenburg neu – Grützke, Wewerka, Paolozzi, Roth, 1968 zum ersten Mal in Berlin überhaupt David Hockney.

Die großbürgerliche Wohnung, in der er bis heute lebt, hat viel gesehen. Und sie wurde zum Archiv und zu einer die Wände bis unters Gesims füllenden Handbibliothek über Kunst, Berlin, Politik, Geschichte, Parlamentarismus. Drei Riesenschreibtische, unter Papierstapeln verschwindende Ablagetische, Zeitungsausschnitten und Aktenschränke. Hier lernte auch der Autor dieser Zeilen: Parlamentsprotokolle sind Dramen, in denen es um das realste geht, was politisch zu verhandeln ist: Das Leben.

Eine Postkarte an Christo

Irgendwann um 1970 begann nämlich Cullens Leidenschaft für den Riesenbau am Platz der Republik, dessen Wiederaufbau nach den spätmodernistisch-trocknen Plänen Paul Baumgartens gerade abgeschlossen war. 1971 schickte er an Christo und Jeanne-Claude in New York eine Postkarte mit dem Reichstag ohne Kuppel: „Ich schlage vor, dass Sie das umseitige Gebäude verhüllen.“

Die beiden hatten gerade mal wieder für Skandal und Aufsehen gesorgt, mit einem 400 Meter langen und bis zu 111 Meter hohen Vorhang aus strahlend orangenen Folien, der ein Tal in den Rocky Mountains teilte. Die Folie zerriss umgehend im Wind, nur ein Foto konnte entstehen. Und in New York wurde eine Postkarte gelesen. Michael hatte seine Lebensaufgabe gefunden.

Es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis der Reichstag hinter silbernen Folien verschwand und nach zwei Wochen wie neugeboren wieder erschien, bereit, nicht mehr nur Denkmal der zerstörten Weimarer Republik, des verlorenen Kriegs, der Befreiung zu sein, sondern als Haus der neuen Bundesrepublik zu dienen. Politische Kunst wie aus dem Handbuch, die zeigt: Auch die Demokratie ist des Großen fähig. Nicht, dass er sich nur dieser Aufgabe widmete, in der Neuen Nationalgalerie entstand ein Cafe, er forschte zur deutsch-jüdischen Geschichte, zum Historismus, arbeitete als Journalist und Fernsehautor.

Doch in diesen zwanzig Jahren wurde Cullen vor allem zu dem Reichstags-Architekturhistoriker schlechthin, seine Bücher sind bis heute Standardwerke. Fast selbstverständlich zog man ihn also zu Rate, als die Parlamentarier eine Kuppel haben wollten und der Architekt Norman Foster das zunächst vehement ablehnte. Zog ihn zu Rate, als es um die Inschriften sowjetischer Soldaten aus dem Sommer 1945 ging. Zog ihn zu Rate für die Sanierung des Brandenburger Tors. Auch dies ist schließlich gebaute Politik.

Am Sonntag wird der scheinbar unermüdliche, immer noch ein Buch zum Thema aus den Regalen suchende Michael Cullen 85 Jahre jung. Dass das Land Berlin diesem Mann niemals eine Professur gab, der so viel über Berlin, Politik und die Kämpfe erzählen kann, die es braucht, um das Richtige zu wagen – eine andere Geschichte.

Sicher aber ist: Hätten die Schlossfassaden-Fans den Mut des Bundestags gehabt und dem Humboldtforum architektonisch wenigstens einen Hauch gebauter weltoffener Modernität gegeben – sie hätten viele Probleme weniger. Glückwunsch, Michael. Bis zum nächsten Espresso in der so wunderbar amerikanischen Wohnküche mit Blick in den Berliner Hinterhof.

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