In Freiheit

Maryam Majd war Irans erste Sportfotografin. Doch Frauen und Sport gehören aus Sicht der iranischen Regierung nicht zusammen. Deshalb saß sie im Gefängnis. Heute lebt sie in Berlin

Maryam Majd in der Wohnung eines Freundes in Berlin-Wilmersdorf. Nur zwei Koffer gehören ihr

Von Johanna Treblin
(Text) und Dagmar Morath (Fotos)

Als Kind spielte Maryam Majd Volleyball, Tennis und auch ein bisschen Fußball. Sie gewann Wettbewerbe, holte Medaillen. Es gab aber nie Fotos von ihr im Spiel – was sie als Lücke in ihrem Leben empfindet. Anderen jungen Frauen sollte es nicht so gehen. Also wurde Majd Fotografin.

Draußen: Im Volkspark Wilmersdorf liegen vereinzelt Menschen auf Decken und sonnen sich. Kinderrufe schallen über die Wiese, Vögel zwitschern. Eltern schieben ihre Kinder spazieren, ein Mann joggt. Nur eine schmale Straße trennt den langgestreckten Park im Südwesten Berlins von dem Haus, in dem Maryam Majd wohnt. Durch ein niedriges Gartentor gelangt man auf das Grundstück des Siebenstöckers. Die Haustür steht offen, ein Mann in Arbeitskleidung putzt den Fahrstuhlvorraum.

Drinnen: Die Wohnung im sechsten Stock gehört einem Freund von Mar­yam Majd. Sie kennen sich seit knapp 20 Jahren, fotografierten für dieselbe Zeitung. Im Wohnzimmer steht eine große Eckcouch, ein Schreibtisch mit zwei Bildschirmen, ein Fotodrucker. Die Bücher in den Regalen tragen deutsche, englische und arabische Titel. An den Wänden hängen Kunstdrucke. Ob irgendetwas davon Maryam Majd gehört? Sie schüttelt den Kopf, zeigt nur auf einen großen gelben Koffer, der halb versteckt hinter dem Sofa steht, sagt auf Englisch: „Das ist alles, was ich mitgebracht habe.“

Der Koffer: Nicht ganz, wie sich später noch herausstellt: Auch der zweite, schwarze Koffer, der neben der Wohnzimmertür steht, gehört ihr. Majd, 36 Jahre alt, kinnlange dunkle Haare, sportlich gekleidet, öffnet ihn: Er ist voller Kameraequipment. Ein riesiges rundes Ding ist besonders auffällig: ein Teleobjektiv, unentbehrlich für eine Sportfotografin.

Freiheit in Freiheit: Majd fotografiert vor allem Fußball, und am liebsten Frauenfußball. Ob Mädchen beim Kicken auf der Straße oder die Frauen­nationalmannschaft bei ihren wenigen öffentlichen Spielen. Sie war im Teheraner Azadi-Stadion (Freiheitsstadion), als Frauen 2019 das erste Mal seit 40 Jahren wieder als Fans ein Stadion besuchen durften. An den Spielfeldrand zu den – männlichen – Fotografen wurde sie jedoch nicht gelassen. Also blieb sie auf der Frauentribüne und schoss Fotos von rufenden Menschen, Taumel und Tränen. „Das Spiel war sowieso uninteressant. Iran hat 14:1 gegen Kam­bodscha gewonnen.“ Ein Foto von Majd aus dem Stadion mit dem Titel „Freiheit in Freiheit“ wurde im Jahr darauf mit dem von den Vereinten Nationen geförderten Preis Photography4Humanity (Fotografie für Menschlichkeit) ausgezeichnet.

Der Kuss: Im Dezember 2023 gewann die spanische Nationalmannschaft die Frauenfußball-WM in Australien. Ein Foto ging um die Welt: Luis Rubiales, Chef des spanischen Fußballverbandes, küsste bei der Siegerehrung die Spielerin Jennifer Hermoso auf den Mund. Auch andere Spielerinnen warfen ihm übergriffiges Verhalten vor. Internationale Medien veröffentlichten anschließend ein Foto von Maryam Majd. Darauf umarmt Rubiales die Engländerin Lucy Bronze, sein Mund ist nahe an ihrem Ohr, es sieht aus, als küsse er sie auf die Wange. Rubiales’ Küsse haben sie „total schockiert“, erinnert sich Majd. „Hätte er einen Mann auf den Mund geküsst, um seine Freude auszudrücken? Sicherlich nicht.“ Immerhin, sagt Majd, werde übergriffiges Verhalten von Männern im Sport nun endlich öffentlich debattiert. „Heute haben alle ihre eigenen Social-Media-Kanäle und erzählen ihre Geschichten selbst. Die Frauen wehren sich.“

Fotolücke: Als Kind hat sie selbst viel Sport getrieben und an Turnieren teilgenommen: Volleyball, Tennis, Fußball. „Es gibt aber keine Fotos von mir, die mich beim Spielen zeigen.“ Immer nur: bei der Siegerehrung, mit Medaille oder Pokal in der Hand. Frauen, die Sport machten, das galt im Iran als Teil der westlichen Kultur. Frauen gehörten nach Hause, nicht ins Stadion. Deshalb durfte es davon auch keine Fotos geben. „Da ist eine Lücke in meinem Leben.“ Anderen jungen Frauen sollte es anders ergehen. Majd wollte ihre Lücken füllen.

Familie: „Ich bin anders als meine Geschwister“, sagt Majd. Ihre beiden Schwestern sind heute Ärztinnen in Kanada, ihr Bruder lebt wie ihre Eltern weiter in Teheran und ist In­genieur. Sie war schon damals die Einzige in der Familie, die sich für Kunst interessierte. Wenn ihr Vater, Geschichtsprofessor an der Universität, Zeitung las, schnitt sie später Fotos daraus aus und bastelte Collagen. „Ich war kreativ – und auch ein bisschen risikofreudig.“ Trotzdem hielten die Geschwister zusammen. Gemeinsam überzeugten sie die Eltern, Maryam ihren Weg gehen zu lassen. Der führte sie mit 15 Jahren auf eine Schule mit Film- und Fotoschwerpunkt. Sie entwickelte ihre eigenen Negative und grub sich immer tiefer in die Fotowelt ein. Nach dem Schulabschluss studierte sie Fotografie an der Universität in Teheran. Viele Kommilitoninnen hatte sie nicht. Für eine iranische Nachrichtenagentur fotografierte sie schließlich im Parlament. Die Redaktion war der Meinung, Sport interessiere Frauen nicht. Majd sah das schon damals anders.

Football Under Cover: Dann kam das Jahr 2006. Zum ersten Mal durfte die iranische Frauennationalmannschaft im eigenen Land in einem Stadion vor Zuschauerinnen spielen. Gegen ein Team aus Berlin-Kreuzberg, den BSV AL Dersimspor. Auch Maryam Majd war im Stadion. Sie lernte die deutschen Fußballfrauen kennen und die Gruppe von Discover Football, die über das Freundschaftsspiel einen viel beachteten Dokumentarfilm drehte: „Football Under Cover“. Das geplante Rückspiel in Berlin ein Jahr darauf erlaubten die iranischen Behörden erst im Jahr 2016.

Gefängnis: 2011 will Majd zur Frauenfußball-Weltmeisterschaft nach Deutschland fliegen. Als erste iranische Sportfotografin hatte sie eine Akkreditierung der Fifa bekommen. „Meine Mutter fuhr mich nachts zum Flughafen. Als wir im Parkhaus parken wollten, wurden wir von elf Männern umstellt. Sie zeigten uns einen Brief, durchsuchten mein Gepäck. Dann verbanden sie mir die Augen und brachten mich ins Gefängnis.“ Erst glaubt sie, alles sei ein Irrtum. Doch dann bleibt sie 34 Tage in Haft. Warum, weiß sie bis heute nicht. Bei den Vernehmungen wird sie gefragt, was sie mit der Fifa zu tun habe und warum sie sich für Frauensport interessiere. „Ich war Sportfotografin, natürlich hatte ich mit der Fifa zu tun.“ Damals verstand sie: „Fußball ist politisch.“ Majd wird auf Bewährung entlassen. Fünf Jahre lang darf sie das Land nicht verlassen. Arbeiten darf sie auch nicht. Doch das Fotografieren ist für sie mehr als nur eine Arbeit. „Ich habe mich oft hilflos gefühlt, frustriert. Das Fotografieren hat mich in solchen Momenten immer gerettet.“ Deshalb fotografiert Majd weiter: Sie trifft befreundete Sportlerinnen privat, fotografiert sie zu Hause.

Hindernisse: Als sie 2018 das erste Mal wieder fliegt, bekommt sie eine Panik­attacke. Auch später noch hat sie jedes Mal ein mulmiges Gefühl, wenn sie zum Flughafen fährt. Arbeiten darf sie nun wieder, aber ständig steht sie vor Hindernissen. Mal bekommt sie keine Akkreditierung, um im Stadion zu fotografieren. Mal bekommt sie sie, darf aber nur in die Reporterlounge, nicht an den Spielfeldrand. „Ich bin eine preisgekrönte Fotografin, sowohl im Iran als auch international. Aber mein Land mag mich einfach nicht.“

Foto eines iranischen Frauenfußball-Teams. 2006 durfte die Frauennationalmannschaft des Irans erstmals im eigenen Land in einem Stadion vor Zuschauerinnen spielen

Frauen, Leben, Freiheit: Dann kommt der September 2022. Der Tod der angehenden Studentin Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam löst landesweite Proteste gegen das iranische Regime und die Unterdrückung von Frauen aus. Majd darf die Proteste nicht fotografieren, es wird immer schwerer für sie, ihrer Arbeit nachzugehen.

Berlin: Majd entscheidet sich, das Land zu verlassen. „Ich hatte es satt, für die kleinsten Dinge kämpfen zu müssen.“ In Berlin kennt sie viele Menschen, hofft, sich mit ihrem Englisch durchschlagen zu können. Sie erhält ein Arbeitsvisum, findet aber keine Arbeit. Für die Fotoagentur Getty geht sie ins Stadion und auf Demos­. Einmal habe sie in der Re­daktion angerufen und gefragt, ob sie Polizisten fotografieren dürfe. Klar, sagte der Redakteur. „Das Arbeiten ist hier so viel einfacher als im Iran.“ Zum Leben reicht das Geld, das sie mit den ­Aufträgen verdient, nicht. Deshalb hat sie noch keine eigene Wohnung. Die NGO Media in Cooperation and Transition unterstützt sie, indem sie eine kleine Fotoausstellung für sie organisiert hat.

Sichtbarkeit: Das Interesse an Frauensport habe sich in den vergangenen Jahren geändert. Dennoch: „Der Frauensport steht noch immer im Schatten der Männer“, sagt Majd. „Ich hoffe, dass meine Fotos dazu beitragen, dass auch die Frauen gesehen werden.“