Raus aus den steinernen Städten

Hannover war einmal Hochburg der lebensreformerisch aufgeladenen Freikörperkultur. Davon erzählt eine Ausstellung auf Schloss Herrenhausen

Gesundes Gegenmodell: Frau bei der Gymnastik, 1920er-Jahre Foto: Niedersächsisches Institut für Sportgeschichte

Von Bettina Maria Brosowsky

Es ist schon kryptisch: Im 2013 rekonstruierten Schloss Hannover-Herrenhausen scheint das Mittelportal im „Ehrenhof“ reine Staffage zu sein, denn hinein – ins Tagungszentrum auf der einen und das Museum auf der anderen Seite – gelangt man über kleine Eckpavillons. Will man nun die Sonderausstellung „Unter Nackten“ besuchen, muss man erst einmal das dauerhaft im Museum zu Sehende bezwingen: Thematische Inszenierungen wie „Barocke Welten“ oder „Todesnähe und Überleben“ zum 30-jährigen Krieg warten dort in der Dauerausstellung, eine Treppe führt hinab in einen unterirdischen Verbindungsgang, eine zweite Treppe wieder hinauf zu einem engen Einschlupf in den Westflügel.

Dort dann geht es noch bis Anfang September um die Freikörperkultur zwischen 1890 und 1970 im Allgemeinen – und ihre spezielle Ausprägung in Hannover. Die „Freikörperkultur“, erfährt man im Einstiegskapitel, war eine von vielen Reaktionen auf die desaströsen hygienischen, medizinischen aber auch sozialen Missstände des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Die Massenbehausung in den Mietskasernen der wachsenden Großstädte hatte nicht nur gesundheitliche Effekte wie Tuberkulose oder Rachitis zur Folge. Sondern auch den sittlich moralischen Verfall – zumindest empfanden dies Zeit­ge­nos­s:in­nen mit ausgeprägt erzieherischem Sendungsbewusstsein. Licht, Luft und Sonne wurden zu neuen Maximen in Architektur und durchgrüntem Städtebau, Lebensreformbewegungen propagierten neben allerhand Esoterischem auch Gymnastik, Turnen und Wandern zur Gesunderhaltung – sowie die „Nacktkultur“ im Freien. Die Natur galt als das Vollkommene, Reine und Schöne, das Gegenmodell zur krank machend steinernen Großstadt.

„Nackt“ war aber erst einmal kein klar definierter Zustand. Schon eine Tänzerin wie Isadora Duncan, die um 1900, schicklich in eine Tunica gewandet, jedoch ohne Ballettschuhe und Strümpfe auftrat, galt als nackt und ein Skandal. Lange wurde die Freikörperkultur, kurz FKK, kriminalisiert. Schriften wurden als Pornografie geahndet, in Westdeutschland sogar bis 1950, und Vereine juristisch verfolgt. Gleichwohl wuchs die Bewegung: Gab es um 1913 in Deutschland rund 95 Bünde lebensreformerischer Bewegungen mit 160.000 Mitgliedern, waren es in der Weimarer Republik dann 100.000 Vereine und zwei Millionen Nacktbadefans. Sie beriefen sich auf Adam und Eva, nackte antike Heroenkörper oder immer wieder das gesunde „Wilde“: Der römische Chronist Tacitus und sein Staunen über nackt aufwachsende Germanenkinder mussten ebenso herhalten wie völkisches und antisemitisches Gedankengut.

Hannover war und ist eine Hochburg der „Naturisten“, sie veranstalteten in den 1950er-Jahren Kongresse mit weltweitem Zuspruch. In den Zwischenkriegsjahren bestanden hier 45 Vereinigungen nicht nur mit sittlich blickdicht umwehrten Badeplätzen an der Ihme: Die Freikörper-Freund:innen traten auch als Kneipp-Jünger:innen in Erscheinung, gründeten Bünde gegen den Alkohol- und Tabakkonsum sowie für eine vegetarische Ernährung, Reformwaren- und Gasthäuser; sie warben aber auch, in Form der Siedlergemeinschaft Wittekind von 1919, „zur Hebung deutscher Volkskraft“.

Das NS-Regime konnte dann nicht viel anfangen mit dem recht anarchisch diversifizierten Freikörperkult. Zwar teilte man das Ideal des durch Bewegung an der frischen Luft gestählten Menschenkörpers, die FKK-Vereine der Weimarer Zeit aber wurden verboten oder gleichgeschaltet: zunächst als „Kampfring für völkische Freikörperkultur“, ab 1935, auch auf Geheiß der SS, im „Bund für Leibeszucht“. Nach 1945 feierte die Freikörperkultur mancherorts fröhliche Urstände, auch in Österreich, Frankreich, der Schweiz – mit nacktem Skifahren –, an der jugoslawischen Adria oder in der DDR: Hier wurde Nacktbaden am Ostseestrand zu einer wahren, unorganisierten Massenbewegung.

Grüße aus dem Licht- und Luftbad: Damen- Abteilung als Postkarten­motiv, 1907 Foto: Historisches Museum Hannover

Aber was machte man sonst noch nackt? Der Literat Klaus Mann, der ab 1922 ein Jahr in der wohl damals schon pädophil übergriffigen Odenwaldschule verbrachte, berichtete eher angewidert vom dortigen „Nacktsport“. Ein „Lichtschulheim“ im Lüneburger Land praktizierte gar den gesamten Unterricht unbekleidet. Unbestritten sind therapeutische Erfolge der Luft- und Sonnenexposition des menschlichen Körpers, wie etwa ab 1900 im Sanatorium Dr. Barner in Braunlage, das noch weitgehend im Originalzustand erhalten ist.

Eine nachgebaute dreiseitig offene Lufthütte nach dem als „Sonnendoktor“ bezeichneten Schweizer Arnold Rikli beschließt in Hannover den Rundgang. Hier erfährt man von einem illustren Patienten: Franz Kafka verbrachte im Juli 1912 drei Wochen in solch einer Hütte, als er sich im Naturheilsanatorium „Jungborn“ im Nordostharz einer Kur unterzog. Er höre nachts immerzu Kaninchen und Vögel, vermerkte er im Tagebuch. Eine leichte Übelkeit überkam ihn angesichts der Nackten: „Ihr Laufen macht es nicht besser“. Gar nicht gefielen ihm „alte Herren, die nackt über Heuhaufen springen“. Trotzdem: Seine Schreibkrise überwand der Schriftsteller.

Ausstellung „Unter Nackten. Freikörperkultur 1890–1970“: bis 1. 9., Hannover, Museum Schloss Herrenhausen

Buch Bernd Wedemeyer-Kolwe/Annika Wellmann: „Freikörperkultur in Hannover“. Niedersächsisches Institut für Sportgeschichte 2024, 106 S., 12 Euro