„Butscha war keine Ausnahme“

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch liest in Hamburg. Im Interview erklärt er, warum er die aktuellen Friedensdebatten in Westeuropa für verfehlt und unehrlich hält

Verwüstete Städte, ermordete Menschen: Butscha zeigt, warum ein Leben unter russischer Besatzung undenkbar ist Foto: Zuma/dpa/Laurel Chor

Interview Petra Schellen

taz: Herr Andruchowytsch, Sie haben kürzlich gesagt, Frieden sei ein hinterhältiges Wort. ­Inwiefern?

Juri Andruchowytsch: Es gibt so viele Menschen in Westeuropa, die sich Pazifisten nennen, und dabei verstehen sie die Situation in unserem Krieg entweder nicht oder tun so, als verstünden sie sie nicht. Wer im aktuellen Krieg in der Ukraine Frieden will, muss an den russischen Aggressor appellieren. Diese Pazifisten möchten bitte in Moskau gegen den Krieg demonstrieren, einen offenen Brief an Putin schreiben, an China appellieren, Russland nicht mehr für diesen Krieg zu bewaffnen. Das wäre ein glaubwürdiger Kampf für den Frieden. Aber wenn man sagt, dass die Ukraine und der Westen dem Friedensprozess im Wege stehen: Dann ist „Frieden“ ein unehrliches Wort.

Wenn die Ukraine ab sofort keine Waffen mehr erhielte: Wie sähe ein Leben unter russischer Besatzung aus?

Das Wort „Butscha“ und die dort verübten Massaker stehen für die dann flächendeckend zu erwartenden Verbrechen. Butscha ist emblematisch geworden – fast möchte ich sagen: leider. Denn viele verstehen nicht, dass es viele Butschas gibt. Das war keine Ausnahme, das war kein Exzess einiger weniger Okkupanten. Sondern das hat System, ist fester Bestandteil der russischen Kriegsführung. Die ukrainische Armee hat 2022 auf de-okkupierten Territorium so viele Massengräber gefunden, so viele Überreste von gefolterten und getöteten Menschen. Dazu kommt in den bereits besetzten Gebieten die ständige Verfolgung von Menschen, die ihre ukrainische Identität nicht verstecken wollen. Auch wurden über 19.500 ukrainische Kinder nach Russland deportiert, von denen nur ungefähr 380 zurückkehrten. Angesichts all dessen ist ein Leben unter russischer Besatzung für uns keine Option.

Und wie beurteilen Sie die ständige Sorge Westeuropas, Russland zu erzürnen?

Diese Angst hat Tradition. Schon Karl Marx hat Mitte des 19. Jahrhunderts diese irrationale Angst beschrieben, diese Panik, die einige westliche ­Supermächte befiel, wenn sie an Russland dachten. Verstärkt wurde diese Angst im Zweiten Weltkrieg. Das war Russlands erfolgreichster Krieg aller Zeiten – nur, dass der Westen Russland mit der damaligen, weit größeren Sowjetunion gleichsetzte und übersah, dass etwa die ­Ukraine von der deutschen Armee als erste besetzt wurde und die stärksten Kriegserfahrungen der Sowjetunion machte. Heute steht im Zentrum der westlichen Angst die russische Atomwaffe. Niemand weiß, ob sie einsatzbereit ist, aber Russland kann mit dieser Angst sehr gut manipulieren. Man kann das gut beobachten: Immer, wenn es im Krieg gegen die Ukraine für Russland schlecht läuft, erscheint in den Medien die nächste Drohung mit dem Atomschlag.

Reden wir über Europa. Hat die Ukraine ihre postsowjetische Identität schon gefunden?

Wir suchen noch, und paradoxerweise hat die russische Aggression diesen Prozess beschleunigt. Die Tendenz, sich als Teil Europas und der EU zu begreifen, existiert seit Ende der 1990er-Jahre – man denke an die orangene Revolution 2004 und den Euromaidan 2013/14. Jetzt sind wir Beitrittskandidat und wissen, dass sich noch viel ­ändern muss – in puncto Bürokratie, Korruption, Unabhängigkeit der Justiz. Und dafür wollen und brauchen wir natürlich die ständige Kontrolle und Hilfe von europäischer Seite.

Welche Rolle spielen LiteratInnen derzeit in der Ukraine?

Foto: Stefan Klüter

Juri Andruchowytsch

64, Lyriker, Essayist und Romancier, wurde ausgezeichnet u.a. mit dem Herder-, dem Heinrich Heine- und dem Hannah Arendt-Preis.

Meine AutorenkollegInnen sind vor allem in den ukrainischen sozialen Medien sehr präsent. Sie prägen die öffentliche Meinung – vor allem diejenigen, die aktiv am Krieg teilnehmen: als Soldaten, Offiziere oder als Freiwillige, die regelmäßig an die Front fahren. Organisiert wird das vom ukrainischen Pen-Zentrum, und die Betreffenden fahren fast jede Woche an die Front, bringen Bücher, veranstalten Lesungen, liefern Medikamente. Zurück bringen sie ihre Eindrücke und Texte. Hinzu kommen viele KollegInnen – vor allem Frauen –, die jetzt im Ausland sind und Spenden, aber auch Lehrveranstaltungen in den sozialen Medien organisieren. Das ist ein echter Aktivismus. Der Schriftsteller Andrij Ljubka zum Beispiel hat schon 279 gebrauchte Geländewagen für die Armee gekauft.

Wie schafft er das?

Über Crowdfunding. Er hat seine Popularität und das Vertrauen, das er als Schriftsteller genießt, investiert und eine ­Facebook-Gruppe gründet, die jetzt mit ihm zusammen ­arbeitet.

Und wie gut sind derzeit Lesungen besucht?

„Eine Lesung ist eine Möglichkeit, das Leben vielfältiger zu machen. Wobei vor allem Reportagen aus den Kriegsgebieten besprochen werden“

Erstaunlich gut. Natürlich haben die Leute viele andere Sorgen, aber eine Lesung ist eine Möglichkeit, das Leben vielfältiger und reicher zu machen. Wobei vor allem Reportagen aus den Kriegsgebieten besprochen werden, eine wichtige Informationsquelle für viele Menschen. Die diesjährige Kyjiwer Buchmesse Ende Mai war laut Statistik die seit ihrer Gründung 2011 bestbesuchte. Ich habe die kilometerlangen Schlangen vor dem Messegelände mit eigenen Augen gesehen.

Ist das auch im Osten so, nahe der Front?

Natürlich ist die Hemmschwelle, eine Veranstaltung zu besuchen, in Kyjiw geringer. Kyjiw wird inzwischen gut verteidigt, die Luftabwehrsysteme funktionieren. Aber eine Woche vor der Kyjiwer Buchmesse war ich in Charkiw, etwa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Ich las tagsüber in einem Garten, und es kamen 30 Leute – trotz ständigen Beschusses. Und die Veranstalter, in diesem Fall das Literaturmuseum Charkiw, machen weiter, und das Publikum kommt. Das hat für mich etwas sehr Anrührendes.

Lesung und Gespräch „Der Preis unserer Freiheit“, Essays von Juri Andruchowytsch.

27. 6.,19 Uhr, Zentralbibliothek, Hamburg. Eintritt frei