berliner szenen
: Werwolf am Trampel­pfad

Wie entsteht ein Trampelpfad? Es wurden uns Wege in die Welt gebaut. Wege, die sich jemand in einer dunklen Kammer der Abstraktion ausgedacht hat. Wer auch immer die Person ist, an deren Vorstellungen haben wir uns zu halten.

Eigentlich. Weder ich, mit Fahrrad unterwegs, noch der Mann dort, mit Hund unterwegs, tun es, denn wir präferieren beide gerade den Trampelpfad. Da ich mich auf zwei Rädern fortbewege und er sich auf sechs Füßen (er hat zwei, der Hund vier), überhole ich ihn. Es ist Samstag, früh um sieben, und der Sommer atmet sanft. Die Haarspitzen des Hundes leuchten im Morgenlicht. Melodisches Vogelgezwitscher umgibt uns und der Morgentau lässt die Luft frisch und süß schmecken. Kaum Menschen sind zu sehen oder zu hören – nur wir drei, ich, der Mann und sein Hund.

Doch dann verpasst er mir den Schreck meines Lebens, als er mich seitlich anbrüllt. „Hier dürfen Sie nicht lang!“ „Die jungen Menschen, sie machen alles kaputt. ABSTEIGEN!“ Mit Schaum vor dem Mund bleibt er stehen. Seine Wut kocht hoch und es scheint so, als würde er versuchen, mich aus zwei Meter Entfernung anzuspucken.

Ich bekomme ein bisschen Angst. Bis eben schien der Mann ganz friedlich zu sein und ging mit seinem Hund nett um. Wie nah unter der Haut köchelt wohl selbst in seinen friedlichsten Momenten diese Wut? Auf was für einer messerscharfen Kante balanciert seine Psyche, dass er sich innerhalb von einer Sekunde in einen Werwolf verwandelt, sogar ganz ohne Vollmond?

Und was ist eigentlich mit den Entwürfen unseres Herren der Abstraktion, der sich die Wege hier im Volkspark ausgedacht hat? Warum muss ich mich an die Wege halten, der Mann und sein Hund aber nicht?

Nina Kashi Street