Viel Licht in dunklen Tagen

KINDERHOSPIZ Im Sonnenhof in Pankow können bis zu zwölf Kinder und Jugendliche mit unheilbaren Krankheiten die letzte Zeit ihres Lebens verbringen. Auch die Angehörigen sammeln hier Kräfte

■ Der Jüdischen Gemeinde fiel es schwer, sich von ihrer Immobilie in der Wilhelm-Wolff-Straße 38 zu trennen, die eine lange jüdische Geschichte hat. Allerdings braucht die Gemeinde das Geld dringend – das Haus soll für 1,35 Millionen Euro den Besitzer wechseln –, um ihr Haushaltsloch zu stopfen.

■ Früher war das Haus schon einmal ein Heim, und zwar für hilflose jüdische Kinder. 1942 kam ein SS-Kommando und deportierte sie. Als nach Kriegsende jüdische Überlebende der Todeslager nach Berlin zurückkehrten, fanden sie hier Unterkunft. Bis Ende der 90er-Jahre war darin ein Altenheim der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Dann stand es lange Zeit leer, bis der Sonnenhof als Mieter einzog.

VON CHRISTINE SCHMITT

Bewegungslos sitzt Anna* in ihrem Rollstuhl vor dem Aquarium in der Küche. Ohne innezuhalten, schwimmen die bunten Fische hin und her. Die Neunjährige schaut in die Richtung des Glaskastens – was genau sie wahrnimmt, kann niemand sagen. Eine Pflegerin kommt auf sie zu. „Na, du hast aber heute zwei schicke pinke Haargummis in deinem Zopf“, sagt sie. Anna dreht den Kopf andeutungsweise in ihre Richtung – mehr ist ihr nicht möglich –, lächelt und lautiert zustimmend. Denn sprechen kann sie nicht.

Anna, die mit einem genetischen Defekt auf die Welt gekommen ist und eine geringe Lebenserwartung hat, ist eines von zwölf Kindern, die derzeit im Kinderhospiz Sonnenhof in Pankow leben. „Unsere zwölf Zimmer haben sich mittlerweile als zu wenig erwiesen“, sagt Jürgen Schulz, Initiator des Hospizes. Häufig riefen verzweifelte Eltern an und suchten händeringend einen Platz für ihr krankes Kind. „Wir möchten keiner Familie absagen. Deshalb wollen wir nun größer werden und anbauen“, so Schulz.

Da das Hospiz bisher nur Mieter des Häuserkomplexes an der Wilhelm-Wolff-Straße war, hatte es dazu keine Möglichkeit. Doch nun hat sich die Eigentümerin der Immobilie, die Jüdische Gemeinde zu Berlin, nach mehreren Anläufen dazu durchringen können, sie an das einzige Kinderhospiz in Berlin-Brandenburg zu verkaufen. „Ich bin sehr erleichtert“, meint Schulz. Vier weitere Zimmer sind nun geplant; damit würde der Sonnenhof zum deutschlandweit größten Kinderhospiz.

„Wir können keine Wunder vollbringen und jemanden heilen, aber wir können die letzte Zeit so angenehm wie möglich gestalten“, sagt Schulz. Er weiß, wovon er spricht, denn auch er ist betroffener Vater. Viele Jahre des Hoffens und Kämpfens um das Leben seines Sohnes Björn haben ihn geprägt, sagt der heute 70-Jährige. Sein Sohn erkrankte als Dreijähriger an Leukämie; er starb mit knapp acht Jahren. Das Hoffen, das Zittern vor neuen Befunden und die Angst um das Kind kennt er nur zu gut. „In dieser existenziellen Situation glaubt man, am Ende seiner Kräfte zu sein.“

Noch schlimmer, als tagtäglich zusehen zu müssen, wie „mein Kind immer schwächer“ wird, sei es, die Diagnose zu verkraften. „Die haute mich dann endgültig um“, sagt eine Mutter, deren vierjährige Tochter an einem seltenen Gendefekt litt und mittlerweile verstorben ist. Diese Trauer um ihr verlorenes Kind werde sie ihr ganzes Leben begleiten, sagt sie.

Alle Sinne ansprechen

Während Anna sich den Fischen widmet, klappert in der Küche Mitarbeiterin Annegret Mielke lautstark mit den Topfdeckeln. „Eigentlich bin ich Mädchen für alles, fürs Bettenbeziehen, Saubermachen, und fürs Bespaßen“, sagt sie gut gelaunt. Weil die Köchin gerade Urlaub hat, will sie nun eine Mahlzeit auf den großen Tisch in der offenen Wohnküche zaubern. Kartoffeln mit Kräuterquark soll es geben. Anna leistet ihr Gesellschaft. „So kann sie mich hantieren hören, sie kann das Essen riechen – und ist nicht allein“, meint die 54-Jährige. Annas Eltern können gerade nicht bei ihr sein.

„Sterben ist auch Lebenszeit“, betont Schulz. Der Sonnenhof sei deswegen auch ein „Haus der Freude“. Wörter wie „austherapiert“ oder „finales Stadium“ hasst er. Kein Mensch könne schließlich eine Prognose abgeben. Sein krebskranker Sohn Björn wurde nur sieben Jahre alt – aber er lebte länger, als die Mediziner das damals, Anfang der 80er-Jahre, vermutet hatten. „Uns wurde ein halbes Jahr geschenkt“, sagt Schulz heute.

Wenn es nach ihm und seinen Mitarbeitern ginge, dann sollte die Betreuung von betroffenen Familien gleich nach dem Diagnostizieren einer unheilbaren Krankheit beginnen – und über den Tod hinausgehen. Die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen müssten – solange es ihnen gut geht – ja noch nicht ins Hospiz, sie könnten aber bereits von Familienbegleitern zu Hause betreut werden. „Aufgrund der oft jahrelangen Pflege sind die Eltern körperlich und seelisch völlig überlastet. Anders als im Erwachsenenhospiz bieten wir ihnen im Sonnenhof immer wieder – auch über Jahre hinweg – Zeit zum Kräftesammeln für die weitere Betreuung ihrer Kinder“, so Schulz.

„Wir versuchen, die letzte Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten“

JÜRGEN SCHULZ, INITIATOR

Manche Kinder leben noch Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre im Sonnenhof. Die meisten müssen mit Stoffwechselkrankheiten, genetischen Defekten, Geburtsschäden, Muskelschwund oder Krebs leben. Sie würden aber nicht auf den Tod warten, weiß Schulz. „Sie und ihre Familien haben die Möglichkeit, die ihnen verbleibende Zeit zu genießen und sie reich gestaltet zu erleben.“

In den sieben Jahren, die es den Sonnenhof in Pankow nun gibt, sind 140 Kinder gestorben. Wenn die Eltern es sich zutrauen, können sie die letzten drei Tage mit ihrem Kind zu Hause verbringen. „Unsere Schwestern und Ärzte spüren es, wenn ein Kind sich verabschiedet“, sagt Schulz. Sie würden dann den Eltern Bescheid geben und sie fragen, ob sie im Hospiz bleiben mögen.

Auf Spenden angewiesen

Der Sonnenhof ist zudem eine „Tankstelle“, wie Sprecherin Frauke Frodl meint. Hier können auch Eltern von schwerbehinderten Kindern bis zu 35 Jahren ihren Nachwuchs unterbringen, um „auch mal an sich selbst denken und Kraft auftanken“ zu können. Finanziert wird der Sonnenhof überwiegend durch Spenden. Nur 40 Prozent der Kosten würden von den Krankenkassen bestritten, so Frodl.

Fred wird in seinem Rollstuhl in die sonnendurchflutete Küche hereingeschoben. Annegret Mielke lässt Kartoffeln und Töpfe liegen und stehen, um den 21-Jährigen zu begrüßen. „Mensch, Fred, nachts in die Disco gehen und tagsüber schlafen“, foppt sie ihn. Fred lacht übers ganze Gesicht. Er ist als Frühchen auf die Welt gekommen und hat ein durch Sauerstoffmangel geschädigtes Hirn. Fred lebt bereits seit Jahren im Sonnenhof und ist mittlerweile so stark beeinträchtigt, dass er künstlich ernährt und ständig abgesaugt werden muss. Richtig schlucken kann er nicht mehr. „Zu den Mahlzeiten kommen Eltern und Kinder in unserer Wohnküche zusammen; auch die, die nicht mehr selbst essen können“, sagt Annegret Mielke, während sie nun die Kartoffeln wäscht.

Im Schwesternzimmer neben der Küche steht Martin Hartl und blättert in Unterlagen. Der 22-jährige Österreicher macht im Sonnenhof sein Praktikum. Er hatte im Fernsehen einen Bericht über das Hospiz gesehen. Nun ist er für die Beschäftigung der Kinder zuständig. „Ich richte mich nach ihren Bedürfnissen“, sagt der angehende Sozialarbeiter. Er möchte genau hinhören und hinsehen, was „meine Kinder“ wollen, denn nur die wenigsten können es noch sagen. Manche mögen es, die steifen Hände mit Öl massiert zu bekommen, mit anderen fährt er Straßenbahn. „Viele lieben diese Akustik“, sagt er. Aber auch den Snoezelraum – ein Zimmer, in dem alle Sinne angeregt werden – oder das Bewegungsbad im Souterrain. Als sehr „prägend“ empfindet er seine Arbeit.

Neben 20 Pflegern gibt es Kunst- und Musiktherapeuten, Seelsorger, Heilerziehungspfleger, Ärzte, Pädagogen und Krankengymnasten. Außerdem werden am Sonnenhof Familienbegleiter ausgebildet, die die betroffenen Familien ehrenamtlich zu Hause im Alltag entlasten.

Manche Kinder leben noch Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre im Sonnenhof

Durch den Garten eilt eine Mutter mit einem Baby im Tragetuch. Sie ist auf dem Weg zum Babyschwimmen, das eine Krankengymnastin im Bewegungsbad anbietet. „Wir sind ein offenes Haus“, betont Schulz. Nachmittags kommen viele Kinder aus der Nachbarschaft und besuchen den Streichelzoo, den kleinen Spielplatz, oder sie spielen mit den Dreirädern und Bobby Cars.

„Der Ort ist uns so wichtig, dass wir hier im Garten unsere Hochzeit gefeiert haben“, sagt eine Mutter. Ein Jahr zuvor war ihr Sohn August als Baby an einer unheilbaren Stoffwechselkrankheit im Sonnenhof gestorben. Sie haben seinen Namen auf einen Stein geschrieben und diesen in den Erinnerungsteich zu den anderen Steinen gelegt. Danach besuchte die Familie den Offenen Freitagstreff im Hospiz, um sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. „Allein hätten wir das nie geschafft.“

Die Küchentür geht ständig auf und zu. In diesem Moment ist wohl keiner allein im Sonnenhof, alle versammeln sich nun um den Tisch. Es riecht nach Kartoffeln und frischen Kräutern. „Die Fütterung der Raubtiere kann beginnen“, sagt Annegret Mielke.

* Name geändert