Zauderer oder Realist? Distanziertes Lob für den Kanzler

Daniel Brössler skizziert ausgewogen und sachlich Olaf Scholz’ Ukrainepolitik

Von Stefan Reinecke

Vielleicht wird über die Kanzlerschaft von Olaf Scholz einst vor allem wegen einer Frage geurteilt werden: des Ukraine­kriegs. Selten hat ein Kanzler in einer fundamentalen Frage so viel Kritik aus der eigenen Regierung einstecken müssen. Der SPD-Mann sei zu zögerlich und liefere zu wenig und zu spät Waffen an Kyjiw. Eine Liberale warf Scholz sogar vor, Putins Narrativen zu folgen – eine Art fünfte Kolonne im Kanzleramt. Konservative und liberale Medien bescheinigen der SPD, sich uneinsichtig und naiv an die Illusionen der Entspannungspolitik zu klammern. Als Scholz vor der Gefahr einer atomaren Eskalation warnte, attestierten ihm die Leitmedien, auf Putins Drohungen hereinzufallen.

Der Journalist Daniel Brössler, Redakteur der Süddeutschen Zeitung und früher Korrespondent in Moskau, gehört zu den Kritikern der Russlandpolitik der SPD bis 2022. „Ein deutscher Kanzler“ ist aber keine dampfende Abrechnung geworden. Meinungen sind überhaupt erfreulich sparsam dosiert. Brössler zeichnet nach, wägt ab, schildert Scholz’ Wandlung vom linken Juso zum Hardcorerealo und versucht, durchaus distanziert, dessen Motivlagen sichtbar zu machen.

Ein entscheidender Moment war wohl der Nachmittag des 27. Februar. Scholz hatte im Bundestag die „Zeitenwende“ ausgerufen. Die Union war begeistert, das mediale Echo positiv – Scholz, der Macher. Doch der Kanzler hatte anderes im Sinn. Er müsse auch an jene denken, die Angst vor einer Ausweitung des Kriegs haben. Diese Leitlinie befolgt er seitdem eisern. Das Ergebnis gibt ihm recht. Deutschland liefert Kyjiw mehr Waffen als alle anderen EU-Staaten zusammen. Trotzdem gilt der SPD-Mann als vorsichtiger Staatsmann, der Risiken meidet.

Daniel Brössler: „Ein deutscher Kanzler“. Propyläen Verlag, Berlin 2024, 336 Seiten, 25 Euro

Scholz folgt, so Brössler, bei den umstrittenen Waffenlieferungen weniger Willy Brandt als Helmut Schmidt, der während der Nachrüstung 1979 die USA für das einspannte, was er für sicherheitspolitisch nötig hielt. Der Kanzler hielt es mit den Panzerlieferungen ähnlich – nie alleine, nur mit den USA. Und er orientiert sich an der Strategie, die US-Präsident Biden im Mai 2022 formuliert hatte: Ja zur massiven Unterstützung der Ukraine, Nein zu allem, was einen Krieg der Nato mit Russland zur Folge haben könnte. Der Einsatz von Atomwaffen war keine fixe Idee des Kanzlers, denn er wurde in Russland, wie die New York Times kürzlich noch mal nachzeichnete, ­konkret ­erwogen.

„Ein deutscher Kanzler“ zeigt weniger einen schwankend Ängstlichen als einen mit klaren Grundsätzen, die zu erklären er allerdings oft versäumte. Brösslers Urteil fällt, bei viel Kritik in Details und als Frage verkleidet, eindeutig aus: „Hätte ein deutscher Kanzler, die Gefahr des Atomkriegs vor Augen, wirklich weiter gehen können als der US-Präsident?“