berliner szenen
: Gibt zu viel Stress im Kollektiv

Eine ältere Dame in elegantem Trenchcoat mit Seidenschal um den Kopf und verdunkelter Brille auf den Augen bleibt neben meinem Außentisch vor einem Bioladen stehen. Sie beugt sich runter und tastet den Baum neben dem Tisch ab. Es dauert einen Moment, ehe ich kapiere, dass sie blind ist und erfühlt, wo sie ihren Hund anleinen kann. Sie schlingt die Leine um den Baumstamm und verknotet sie, beugt sich zu ihrem Hund und wispert: „Nicht aufregen, ja? Ich brauche nur zwei kleine Sachen und beeile mich.“

Dann geht sie in den Laden. Ihr Hund, ein kleiner Mischling, folgt ihr mit Blicken. Sobald sie außer Sichtweite ist, beginnt er zu kläffen. Ein Mann mit Einkaufswagen sagt freundlich, aber bestimmt zu ihm: „Na, na, nicht so laut, sonst musst du nächstes Mal noch zu Hause bleiben.“ Auch ich schaffe nicht, ihn zu beruhigen. Als die Frau nach 15 Minuten wieder aus dem Biomarkt herauskommt, stellt sie eine Tüte neben dem Baum ab, krault ihrem langsam verstummenden Hund die Ohren und sagt: „Du hast ja recht. Ich habe gesagt, ich brauche nur einen Moment. Und ich wollte ja auch nur Bärlauch und Tomatenpaste. Aber beides war nicht da, wo es sich sonst befindet.“

Ich helfe ihr die Leine vom Baum zu wickeln und sage: „Kann ich mir vorstellen. Ich finde es auch immer schwierig, mich hier zurechtzufinden.“ Sie winkt ab: „Dann stellen Sie sich einmal vor, Sie wären auch noch blind.“ Und fügt hinzu: „Das war mal ein ganz toller Laden, ist ja auch ein Kollektiv. Aber mittlerweile stehen die Mitarbeiter so unter Stress, das merkt man richtig. Nicht einmal um Hilfe bitten, wenn man etwas nicht findet, kann man die. Die rennen so rum wie aufgescheuchte Hühner.“ Ein Glück habe sie noch Familie, die für sie einkaufen gehen könne: „So schnell wage ich das alleine nicht mehr.“

Eva-Lena Lörzer