gastkommentar
: Kommt die Stunde der Wahrheit?

Schröders Entscheidung für Neuwahlen ist typisch für seinen impulsiven Politikstil. Er hat damit manches falsch und vieles richtig gemacht. Diesmal war es goldrichtig

von Martin Schmidt

Gerhard Schröders Entscheidung, Neuwahlen herbeizuführen war eine Sternstunde der Demokratie. Eine zutiefst geschwächte Regierung fragt das Volk: Wollt Ihr, dass wir untergehen? Das Volk hat ein paar Monate Zeit, sich das zu überlegen. Schröders Entscheidung ist typisch für seinen impulsiven Politikstil. Er hat damit Wahlen gewonnen, manches falsch und vieles richtig gemacht. Diesmal war es goldrichtig. Und deswegen sollten die Grünen nicht beleidigt sein. Einen Bonus für eine richtige Entscheidung muss es unter Koalitionspartnern geben.

Schon nach wenigen Tagen sorgt die Schröder-Entscheidung dafür, dass sich die Nebel lichten: Lafontaine geht endgültig in die Ecke – wo er hingehört. Angela Merkel müsste sich für den Tag nach dem Wahlsieg eigentlich eine Rede vorbereiten wie einst König Rehabeam, der Salomo auf dem Thron nachfolgte und den Stämmen Israels mitteilte: „Mein Vater hat euer Joch schwer gemacht, ich werde es noch schwerer machen.“ Aber das wird sie sich nicht trauen. Der Beginn der Programmdebatte bei der CDU zeigt, dass sie dasselbe Problem hat, wie die SPD 1998: Nach einer Zeit der destruktiven Opposition über den Bundesrat muss sie Dinge selbst wollen, die sie grade noch verhindert hat. Die rot-grüne Koalition hat das einige Jahre gekostet – die jetzt bitter fehlen. Immerhin beginnt in der CDU schon die Diskussion über die mannhaft verteidigte Eigenheimzulage. So bleibt die Aufgabe der Wahrheitssuche wohl bei den beiden bisherigen Regierungsparteien. Sie müssen nicht jedes Komma ihrer Beschlüsse verteidigen, aber den Sinn ihrer Politik erklären und deren Perspektiven für die nächsten Jahre.

Bei den Grünen gibt es da einige verdächtige Töne: Zurück zur eigenständigen grünen, ja sogar zurück zu urgrüner Politik – so die Grüne Jugend. Wer zu den Anfängen grüner Politik zurückwill, kennt sie nicht: Antiparlamentarismus, ein verlogener, antiwestlicher Pazifismus, Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols, Ablehnung ökonomischer Maßstäbe für die allgemeine Entwicklung – dergleichen Ideologien steckten hinter dem erklärten Wunsch, nicht regieren zu wollen. Die eigenständige grüne Politik ist dagegen etwas selbstverständliches. Aber dabei darf man nicht vergessen, dass der Weg von grüner Ideologie zur Wirklichkeit häufig im Aufeinandertreffen der Koalitionspartner stattfand. So borniert die SPD gelegentlich sein mag, für die Grünen hat sie immer auch die Rolle des ersten Realitätstests gespielt. Schröder war für diese Rolle besonders gut geeignet, weil er immer frühzeitig roch, was möglich war und was nicht.

Die zentrale Herausforderung, die sich die Grünen selbst gestellt haben, hat sich in den letzten Jahren wenig verändert: Sie müssen nachweisen, dass die Welt im ganzen und Deutschland im besonderen sich positiv entwickeln kann, dass es nicht zur ökologischen oder militärischen Katastrophe kommen muss. Aktuell geht es um die Globalisierung und ihre Folgen, die sehr seltsam diskutiert werden. Ich möchte dazu zwei Aspekte hervorheben:1. Politik und WirtschaftGünter Grass hat neulich in einem großen Artikel in Die Zeit alle Vorurteile der bundesrepublikanischen Linken dazu wieder aufgewärmt. Die Bosse dirigieren durch die Lobbyisten, was die Parlamente tun sollen. Die Bosse würden sich wohl nicht mal freuen, wenn sie das könnten. Denn sie wissen, dass ohne ein stabiles Gemeinwesen auf Dauer kein Profit zu machen ist. Aber grundsätzlich darf man nicht vergessen: Der Gang der Weltgeschichte ist eine stetige Auseinandersetzung um die Einbettung der Ökonomie in die Politik. Die Entstehung der ersten Demokratie im antiken Athen lässt sich beschreiben als erfolgreicher Versuch, den Willen des Volkes als Instanz gegen den Selbstlauf der Wirtschaft zu institutionalisieren. Seit dem Beginn des eigentlichen Kapitalismus in der Moderne kann man diese Auseinandersetzung in allen Ländern Europas und den USA beobachten. Dabei gibt es Aufs und Abs. Aber in keinem der Kernländer des Kapitalismus kann davon die Rede sein, dass es der Wirtschaft gelungen wäre, alle Fesseln abzustreifen. Jetzt sind wir soweit, dass eine nationale „Einbettung“ der Wirtschaft nicht mehr möglich ist. Deswegen muss Europa stark werden, unter anderem ökonomisch und politisch gegenüber den USA. 2. Globalisierung als notwendiges ZielZu den Seltsamkeiten der gegenwärtigen Debatte gehört die um die Globalisierung. Gern wird dabei vergessen, dass sie stattfindet, seit die kapitalistische Produktionsweise zur herrschenden geworden ist. Deswegen muss man darauf hinweisen, dass die Globalisierung ein notwendiger Teil des Wegs zur Herstellung gerechter Verhältnisse in der Welt ist. Alle Menschen haben das Recht, so gut zu leben wie zum Beispiel die Dänen. Und das geht nirgendwo mehr dadurch, dass man nur von dem lebt, was man selbst herstellt.

Bei landwirtschaftlichen und handwerklichen Produkten sieht das auch das grüne und linke Herz, kauft „Dritte Welt“-Produkte und fordert freie Marktwirtschaft für afrikanischen Kakao und brasilianischen Zucker. Die Konsequenz ist sowohl Verlagerung wie Vernichtung von Arbeitsplätzen bei uns. Dazu braucht man keine bösen Kapitalisten. Aber der deutsche Bauer muss wissen und lernen, was er anstelle von Zucker anbauen soll, und die deutsche Fabrik muss lernen, was sie anstelle des bisherigen produzieren kann. Die Zahl der Arbeitslosen bleibt nur dann so hoch, wenn es darauf keine Antwort gibt.

Deutschland muss nicht die Frage beantworten, ob es für oder gegen Globalisierung ist. Vielmehr geht es darum, die ökonomische Rolle eines alten Industrielandes neu zu entwickeln. Wenn der Wahlkampf darüber geführt würde, hätte Gerhard Schröder sich um Deutschland verdient gemacht.