Tote machen kein Theater

In Lübecks Kolumbarium hat das Stadttheater Stefan Weilers Gesprächsbuch „Letzte Lieder“ in Szene gesetzt: Zu erleben sind bittere Reue, stille Trauer und grimmiger Humor

Der Speicher als Totenhaus Foto: Michael Angern/wikimedia

Von Jens Fischer

Wer besucht schon gern Menschen im Hospiz oder auf der Palliativstation? Die vorgeblich bedrückende Atmosphäre aus Traurigkeit und Düsternis ruft schließlich die eigene Ohnmacht in Erinnerung. Was die Kommunikation ungelenk werden lässt und befangen bis zum Kitsch: „Dass Sie sterben müssen“, sagt Marita, mit Anfang 50 Hospizbewohnerin, „merken Sie spätestens daran, dass Geschenke nicht mehr aus der Krimi-Abteilung, sondern aus der Esoterik-Ecke stammen.“

Diesen wütenden Humor, diese lustvoll ironische Offenheit und den Kampf um Selbstbehauptung in den letzten Tagen hat Journalist Stefan Weiler bei seinen Begegnungen mit todkranken Menschen vielfach erfahren. Im Buch und Hörbuch „Letzte Lieder“ sowie live in Konzertlesungen beschreibt er diese Szenen und welche Fragen sie aufwerfen nach dem, was von Bedeutung war, welche Belanglosigkeiten wichtig genommen wurden, oder auch, welche Art Beistand gewünscht ist. Die Gespräche hat Weiler nicht mitgeschnitten, sondern anonymisiert aus dem Gedächtnis aufgezeichnet. Zwölf der veröffentlichten Texte hat das Theater Lübeck ausgewählt und an einem dafür prädestinierten, außergewöhnlichen Ort in Szene gesetzt.

„18 Die Eiche 73“ steht an der Backsteinfassade des denkmalgeschützten Kornspeichers auf der Altstadtinsel an der Trave. Es ist einer von sieben Hafenspeichern, die einst der Kaufmannsfamilie Mann gehörten. Deren Spross Thomas ließ darin die Buddenbrook-Kinder herumtollen. Seit fünf Jahren wird „Die Eiche“ nun zu einem überkonfessionellen Urnenfriedhof, einem sogenannten Kolumbarium, mit 3.400 Plätzen wohnzimmergemütlich hergerichtet. Es dient als Ruhezone und Begegnungsstätte mitten in der Stadt.

Demnächst soll sie sechs Tage die Woche für jedermensch geöffnet sein. Am 1. Mai hatte dort die Asche eines ersten Verstorbenen ihren Platz gefunden, fünf weitere Abschiedszeremonien sind im Laufe des Monats hinzugekommen. „Soft opening“ nennt das Michael Angern, der mit Peggy Morenz als Un­ter­neh­me­r:in­nen­paar das Gebäude gekauft hat, umbauen ließ und jetzt betreibt. Eine große Eröffnungsfeier ist für den 20. Juni in Planung. Auch danach solle das Haus für Lesungen, Konzerte, Tagungen und Ausstellungen genutzt werden.

Flankiert von innerlich beleuchteten Kerzen und einer Holzputte gelangen Be­su­che­r:in­nen in die Trauerhalle, die wie ein Kirchenschiff gestaltet ist. Die Decken der darüber liegenden Böden sind geöffnet, Balkenarchitektur und Dielenböden freigelegt, eine von Porzellanplättchen irisierend umschwirrte Lichtskulptur schmückt den Saal, Kirchenbänke laden bis zu 100 Menschen zum Sitzen ein. Laut Regiekonzept zieht der „Tod“-Darsteller eine mit Erde gefüllte Zinkwanne herein, Wasser tröpfelt in eine Schüssel und Memorabilien der inzwischen verstorbenen Interviewpartner finden Platz auf einem knorrigen Baumstumpf. Etwa Trauben für Marita, sagte sie doch: „Auch wenn ich heute aussehe wie eine Rosine: Ich fühle mich noch wie eine Traube.“

„Auch wenn ich heute aussehe wie eine Rosine: Ich fühle mich noch wie eine Traube“

Marita, Hospizbewohnerin

Sie wünschte sich ein letztes Schlagzeugsolo, das gleichzeitig ausdrücken soll „meine große Liebe, mein totes Kind, meine wechselvolle Ehe, mein Spaß am Beruf, meine Lebenslust, die Diagnose, die Angst, die Zuversicht und die ganz große Frage“. Da kein üppiges Drum-Set vorhanden ist, spielt das Ensemble miteinander einfach wild durcheinander. Der Abend pendelt zwischen stiller Trauer und kraftvoll feierlicher Abrechnung mit dem Leben.

Es tauchen Dialoge auf, in denen Schmuck und Kleidung für die Aufbahrung sowie die Lieder der Beerdigung besprochen werden. Anderen wird die Rückschau zur Fehleranalyse: „Ich würde mich nie mehr bei Facebook anmelden, weil ich fürchte, dass man mit meinem Ableben,R.I.P.',,Mach’s gut, Alter', traurige Kätzchen und dramatische Wolkenbilder in Schwarz-Weiß auf meiner Seite posten wird.“ Außerdem sei Facebook Zeitverschwendung, bereut einer.

Mädchen und Tod: Die „Letzte Lieder“-Produktion spielt beiläufig mit klassischen Sterbe-Szenarios Foto: Isabel Machado Rios/Theater Lübeck

Zur Musik von David Bowies „Space Oddity“ kommt „Josef, Anfang 60“ zu Wort, der sich wie Major Tom aus dem Song fühlt: „Ich bin wohl so was wie ein Astronaut, jedenfalls bekam ich im Krankenhaus eine ganze Weile Astronautenkost. Sondennahrung brachte mich durch das Koma. Ich wachte noch mal auf. Dann lag ich in Kabeln und Schläuchen.“

Die Text-/Songauswahl ermöglicht einen berührenden Abend und erlaubt zugleich den Be­su­che­r:in­nen, sich ein Bild von der retro-modernen Edelsanierung des Speichers zu machen. Auf dem ersten und zweiten Boden laden Sessel, Klavier, Kunstwerke und dunkelholzige Wandschränke voller Bücher zum Verweilen ein, aber sie enthalten auch Grabfächer für Urnen, große für Familien, kleine für Einzelpersonen. Dazwischen darf in illuminierten Schaukästen das eine und andere Erinnerungsstück der Verstorbenen ausgestellt werden. Auch „Letzte Lieder“ werden dort noch länger erschallen: Urspünglich hätte die Aufführung am Samstag die Derniere sein sollen. Da aber alle Vorstellungen schnell ausverkauft waren, sind neue für die kommende Spielzeit geplant.

Schauspiel „Letzte Lieder“, Theater Lübeck, Kolumbarium „Die Eiche“, An der Untertrave 34, Lübeck, 1.6. 20 Uhr