Bei ihm war viel Liebe und viel Tod

Dietmar Heddram wäre gerne Künstler geworden. Immerhin ist er jetzt Schauspieler für kleine Rollen. Und Liebender mit großem Schmerz

Älterer Mann mit grauem Haar und Menjoubart steht vor dem offenen Fenster in seiner Wohnung

Dietmar Heddram in seiner Wohnung in Berlin-­Neukölln

Von Waltraud Schwab
(Text) und Steve Braun (Fotos)

Wichtig ist, dass Leute nicht unterschätzt werden, selbst wenn sie nicht angepasst sind.

Draußen: Die Seitenstraßen im Schillerkiez in Neukölln wirken eng. Das liegt mit daran, dass die schmalen Trottoirs rechts und links von alten Bäumen gesäumt sind, die im Sommer zeigen, was im Winter vermisst wird: Dichte, Farben, Nähe, die Nähe zu Menschen. Auch in der Weisestraße, wo Dietmar Heddram in einem Hinterhaus wohnt, ist das so.

Drinnen: Vom Flur gehen Küche, Bad, Kammer und ein Zimmer ab. Es ist eng, jede Wand ist verstellt mit Regalen, Büchern, Nippes, Kleidung, Werkzeug. Ins große Zimmer müssen das Metallbett, Regale, Tische und Stühle reinpassen und viele Kisten unterm Bett, vor den Fenstern. Wo die Wände frei sind, hängen Bilder. Ein dystopisches ist darunter, Heddram hat es gemalt. Auf mit Goldfarbe vermischtem Sand hat er zwei Figuren aus Plastik festgebrannt. Einige Bilder, nicht weniger aussichtslos, sind von Nänzi. Sie ist seine große Liebe.

Authentisch: Echte Berliner sind mittlerweile rar. Heddram, 1958 in Kreuzberg geboren, ist einer. „Genauso ein Berliner wie mein Kakadu, den ich vor 20 Jahren hergab.“ Heddram beherrscht das schnoddrige Idiom, und wenn er erzählt, wird klar, er ist von der Sorte, die nicht zu Kreuze kriecht. „Man muss darüber hinwegkommen, wie man von außen wahrgenommen wird“, sagt er. „Ich bin hier jetzt ja auch nicht beim Casting, möchte keine Arbeit, keinen Kredit.“

Eine Achterbahnfahrt: Rauf und runter ging es in Heddrams Leben. „Bei mir war viel Liebe und viel Tod.“ Gerade gebe es wieder „eine Kontinuität nach unten“. Unten hat es auch an­gefangen; seine schwangere Mutter wurde verlassen. Die Beziehung zur Mutter sei schwierig gewesen. Respekt zollt er ihr trotzdem: „Sie war alleinerziehend, das muss ich anerkennen. Sie hat es geschafft, hat 50 Jahre am Fließband bei Reemtsma geschuftet.“ Er wächst bei der Oma auf – „the bravest women of the world“. Warum? „Wegen ihrer ­Offenheit, ihrer Frechheit, ihrem Witz.“ So eine Art Claire Waldoff in Kleinformat sei sie gewesen.

Der Schock: Als er im Grundschulalter ist, findet seine Mutter einen neuen Partner, „den fiesesten Typen Berlins. So einer im Doppelrippunterhemd, der am Küchentisch sitzt mit Bier. Für den war ich Luft“. Heddram war acht, als er mit der Mutter und „dem Mann meiner Mutter“, anders nennt er ihn nicht, nach Gropiusstadt ziehen muss, in eine der neuen Hochhaussiedlungen. „Es war ein Kulturschock. Plötzlich hatte ich ein eigenes Zimmer, Warmwasser, Klo in der Wohnung, Badewanne.“ Er wäre trotzdem lieber bei der Oma geblieben. Die Mutter arbeitete in zwei Schichten, deren Mann in drei, „die waren nie zu hause, und wenn doch, haben sie gepennt“. Er, Schlüsselkind, zog mit seinen Kumpels über die Felder hinter der Siedlung.

Der Schulfreund: Ausgemacht sei gewesen, dass er aufs Gymnasium geht. Den geforderten Notendurchschnitt dafür verpasste er knapp. Sein Freund Frank hatte das gleiche Problem, war aber Kind betuchterer Eltern. Die hätten bei seiner Mutter angerufen und gesagt: „Der Frank wird auf eine Privatschule geschickt, und der ­Dietmar muss mit.“ Seine Mutter, zu stolz für die Wahrheit, sagte: „Ja jut, wird schon jehn.“ Einen Tag bevor die Schule anfängt, wieder ein Anruf: „Der Frank ist tot.“ Autounfall. „Musste ich alleine zur Schule. War nicht mein Ding. Ich habe eineinhalb Jahre geschwänzt. ‚Kind, was soll aus dir werden‘, hat meine Mutter gesagt. ‚Fang doch bei Reemtsma an.‘“ Darauf hatte Heddram auch keine Lust. Er wollte Maler werden. „Oder Dichter wie Gottfried Benn.“

Der väterliche Freund: In den haltlosen Jahren, die folgten, gab es immerhin Klaus – einen älteren Cousin, der sich Heddramsannahm. „Cooler Typ. Der hatte die besten Platten. Stones, Jimi Hendrix. Der hat mir Geld zugesteckt.“ Er schleuste ihn, obwohl noch zu jung, in Discos. Und dann, an Neujahr 1978, wieder ein Anruf: Klaus ist tot. Besoffen sei er mit einem Freund „und zwei Bräuten“ die Sonnenallee runtergebrettert an Silvester und ­gegen einen Baum geknallt. „Idiot, der war doch verheiratet mit Sabine“, sagt Heddram. „Wenn ich an die Beerdigung denke, Sabine, Wiebke und ich hinterm Pfaffen in der ersten Reihe. Wiebke, die ich auch liebte, im Minirock und Sabine, die eigentliche Königin.“

Sabine: Jetzt nimmt sich diese Heddrams an. Sie fragt ihn, was das werden soll so ohne Schulabschluss, Ausbildung, Arbeit. Künstler, was soll das sein? Und Heddram: „Ist authentisch.“ Sie besorgt ihm eine Boutique mit Klamotten, die soll er führen. „Ich habe das Geld verjubelt.“ Pferderennen werden seine Leidenschaft. Sabine zieht die ­Reißleine. Heddram hält an ­seinem Lebenswandel fest, sorgt sich allerdings auch weiter um die Oma. „Nach dem Tod vom Opa 1982 war ich jeden Tag bei ihr.“ Auch seine Mutter hilft mit. 1983 stirbt die Oma. Erst als es auch ums Erben ging, tauchte der Rest der Familie auf. „Ich hab mich geschämt für die Pfeifen.“ 10.000 Mark hatte die Oma. „Ich wusste, wo sie versteckt waren.“

Aufbruch: Nach dem Tod der Oma übernimmt er deren Wohnung mit Blick auf den Checkpoint Charlie; er findet auch eine Freundin. Die sagt ihm, dass er Sozialhilfe beantragen könne, „Stütze“, wie das in Berlin heißt. „Ich wusste das nicht, bin meiner Mutter auf der Tasche gelegen, bis ich 25 war. Jeden Tag ein Sixpack im Kühlschrank.“ Nebenbei macht er Bilder. Wildes Zeug.

Ute: Auf der Trabrennbahn Mariendorf ist er oft gesehener Gast. Er wiederum erblickt Ute hinter der Kasse eines Wettbüros. Sie gefällt ihm. „Scharfe Braut.“ Unter einer Bedingung lässt sie sich auf ihn ein: Er muss aufhören zu wetten, sie habe zu viele Leute vor die Hunde gehen sehen. Heddram tut’s. Nach ein paar Monaten wird Ute schwanger. „Was soll bloß aus uns werden? Das Kind wird verhungern. Such endlich einen Job“, habe sie geschimpft. Heddram nimmt das ernst und findet einen bei der Post. Sortiert fortan nachts Briefe und ist tagsüber im Atelier. Ute verliert das Kind, wird wieder schwanger, verliert auch dieses Kind. „Das hat unsere Beziehung gekillt. Sie wollte sich nicht mehr von mir anfassen lassen.“ Sie trennen sich.

Nänzi: Bei der Post hat Heddram inzwischen die Aufsicht in der Nachtschicht. „Fehlten Leute, kamen Aushilfen.“ Eine davon Nänzi. „Wenn ich die schon gesehen habe, war die Nacht gelaufen.“ Statt Briefe sortieren macht Nänzi anderes. Träumen, vor sich hin starren, Nägel feilen, erzählt er. Wird die Maschine nicht regelmäßig bestückt, stockt sie, der Mechaniker muss sie wieder anwerfen, „sorg endlich dafür, dass deine Weiber spuren“, schimpft der. „Ich war so froh, als die nicht mehr auftauchte.“

Einrichtung mit Johnny-Cash-Buch

Interessante Mischung: Marilyn Monroe, Maria Callas, Johnny Cash und eine Skluptur von Nänzi – ein Mann mit erigiertem Penis

Déjà-vu: Aber bei einem Johnny-Cash-Konzert im Tempodrom sieht er Nänzi wieder. „Mensch, die kennste doch.“ Er spricht sie an, „ah, du bist das, haste Lust, ein Bier zu trinken?“ Und sie: „Wer mich nach’nem Bier fragt, hat keine Ahnung.“ Da erfährt er von ihrer Drogenkarriere. Sie war mit 16 aus ihrem Heimatdorf weg, lebte mit ihrem Freund am Hauptbahnhof in Nürnberg, zog mit ihm nach Berlin. In Berlin stirbt ihr Freund an einer Überdosis Heroin. Das rüttelt Nänzi auf, sie macht einen Entzug, kriegt die Kurve und wird nach vielen Anläufen an der Hochschule der Künste angenommen. Ihre Arbeiten sind radikal unangepasst, Skulpturen, die das Ganz-unten zeigen, Büsten, die jeden Augenblick zerfallen könnten, Engel ohne Köpfe. „Nänzi lebte den Punk. Ich war nur einer am Feierabend.“ Die beiden werden ein Paar. Ein polyamouröses, eins mit viel Freiheit. „18 Jahre waren wir zusammen. Wir haben uns nie gedemütigt.“

Ein neuer Job: Mit Nänzi kommt eine neue Wendung in sein ­Leben. Er hört bei der Post auf, die Atmosphäre dort hat sich ge­ändert, kein Alkohol mehr, keine Zigaretten und alles durchgetaktet. Nänzi animiert ihn, zu einem Komparsencasting zu gehen. Eine Woche später hat er einen Job. Und als ein Schauspieler ausfällt, soll er einspringen. Ab dann hat er kleinere Rollen; meist spielt er den Ganoven. „Als Komparse krieg ich 100 Mark am Tag, als Darsteller 1.200, werd abgeholt, fahr mit dem Taxi nach Hause.“

Die kalte Nacht: Nänzi und er haben getrennte Wohnungen, sehen sich aber oft. Am 15. November 2013, einem Donnerstag, wollen sie in die Urania zu einem Vortrag von Alice Schwarzer. Morgens ruft sie an: „Du musst kommen.“ Es gehe ihr nicht gut. Als er bei ihr ankommt, habe sie elend aus­gesehen, „redete komisches Zeug“. Sie ist schon lange gesund­heitlich instabil. Ruhe, das weiß er aus früheren Krankheitsanfällen, wird helfen. Irgendwann geht sie ins Bett, er guckt noch Fernsehen und legt sich später neben sie. Um 3 Uhr nachts wacht er auf, weil ihn Eises­kälte umhüllt. Es ist der Moment, in dem Nänzi stirbt. Auch jetzt, zehn Jahre nach ihrem Tod, weint Heddram beim Erzählen.

Die Erinnerung: Seit Nänzi tot ist, kümmert Heddram sich um ihren Nachlass. Es sei mühevoll. „Die Künstler, die halbberühmt sind, die kämpfen halt.“