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: Justiz hinkt Fortschritt hinterher

Ein Berufungsgericht hat ein Urteil wegen Vergewaltigung gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein aufgehoben. Der Prozess in New York soll im September neu aufgerollt werden. Warum es dringend eine Modernisierung der Rechtsprechung für Fälle sexueller Gewalt braucht

Von Valérie Catil

In New York 23, in Los Angeles 16. Zu so vielen Jahren hatten die jeweiligen Gerichte Harvey Weinstein wegen Sexualdelikten verurteilt. Doch die 23 Jahre sind nun erst mal kassiert. Eine einzige Stimme war es, die am vergangenen Freitag dafür sorgte, dass das New Yorker Urteil von 2020 aufgehoben wurde. Das Verfahren soll nun im September neu aufgerollt werden – und die Chancen für Weinstein stehen nicht schlecht.

Viele halten das für einen Rückschritt für #MeToo, wo sein Strafverfahren die Bewegung doch ausgelöst hatte. Das ist es nicht. Vielmehr zeigt die Entscheidung, dass wir vor lauter gesellschaftlichem Fortschritt vergaßen, dafür zu sorgen, dass auch die Justiz mitzieht.

Mit einem Verhältnis von 4 zu 3 entschieden die Richter_innen des Berufungsgerichtes, dass das ursprüngliche Urteil unrechtmäßig sei. Im Verfahren wurden Zeuginnen über ihre Missbrauchserfahrungen vernommen, obwohl diese Frauen eigentlich nicht Teil der Anklage waren. Angeklagte dürfen aber nur nach den ihnen vorgeworfenen Taten beurteilt werden, die im Fall Weinstein aus den Vorwürfen zwei anderer Frauen bestanden: Weinstein soll Produktionsassistentin Mimi Haleyi 2006 zum Oralsex gezwungen und die heutige Friseurin Jessica Mann im Jahr 2013 vergewaltigt haben.

„Eine unveränderliche Verfassung würde schlecht zu unserer Gesellschaft passen“

Professor David Strauss,  University of Chicago

Die Aussagen der zusätzlichen Frauen dienten dazu, Muster der Manipulation im Verhalten Weinsteins festzustellen und so zu zeigen, dass es sich wie im Fall der Klägerinnen nicht um konsensuellen Sex handelte, wie die Verteidigung behauptete. Dass der ursprüngliche Richter des Prozesses, James Burke, zuließ, dass die zusätzlichen Frauen vernommen wurden, soll ein Fehler gewesen sein. So sahen es nun die Richter_innen.

Aus verschiedenen Gründen war der Prozess nur auf die Erfahrungen zweier Frauen ausgelegt. Andere mutmaßliche Opfer kamen aus anderen Staaten, erfuhren „nur“ sexuelle Belästigung, was so nicht strafbar ist. Oder ihr Fall war verjährt. Deshalb be­nötigte die Staatsanwaltschaft die zusätzlichen Zeuginnen. Zeug_innen, die über frühere schlechte Hand­lungen des Angeklagten Auskunft geben ­sollen, nennt man „Molineux-Zeug_innen“.

Ist die Welt, in der wir seit dem Urteil am Freitag leben, nun wieder schlechter geworden? Anhänger der Rechtsprechung dürften sagen: Nein. Im Vakuum eines Gerichtsaals mag das stimmen. Gesetze aber sind immer ein Einblick in die Zeit, in der wir gerade leben. Professor David Strauss von der University of Chicago schreibt, dass auch die Verfassung lebendig ist. „Eine unveränderliche Verfassung würde schlecht zu unserer Gesellschaft passen. Entweder würde sie ignoriert oder, schlimmer noch, sie wäre ein Hindernis, ein Relikt, das uns am Fortschritt hindert (…).“ Sicher, wer Gesetze, gar die Verfassungen ändern will, sollte mehr als ein Mal darüber schlafen. Doch nicht erst die jetzige Aufhebung des Weinstein-Urteils zeigt, dass die Justiz in Sachen sexueller Gewalt ein dringendes Update braucht.

In einer Stellungnahme kritisierten die drei unterlegenen Richter des Berufungsgerichts, dass ihre Kolleg_innen einen gefährlichen Trend fortsetzen würden: Schuldsprechungen in Fällen sexueller Gewalt aufzuheben. War der Weinstein-Fall vor nicht allzu langer Zeit noch ein Meilenstein der Rechtsgeschichte, eine Hoffnung für Opfer von sexueller Gewalt, zeigt die Aufhebung jetzt, dass die rechtlichen Grundlagen dem Wandel dringend folgen müssen.

Harvey Weinstein am 1. Mai im Gerichtssaal in Manhattan, New York Foto: Il­lus­tra­ti­on:Ja­ne Rosenberg/reuters

Am Mittwoch wurde in einem Gerichtstermin, bei dem auch Weinstein anwesend war, verkündet, dass die Staatsanwaltschaft einen neuen Prozess im September anstrebt. Und weil die Ausgangssituation ohnehin schon unübersichtlich war, werden die Chancen des ehemaligen Hollywoodmoguls vermutlich nicht schlecht stehen. Genau deswegen hatte die Staatsanwaltschaft ursprünglich überhaupt erst das Risiko auf sich genommen, die Molineux-Zeuginnen zu vernehmen.

Neben dem Urteil in New York stehen die 16 Jahre in Los Angeles noch weiterhin. Aber auch die möchten Weinsteins Anwält_innen bald anfechten. In diesem Prozess gab es ebenfalls Molineux-Zeuginnen. Allerdings sehe das kalifornische Gesetz deren Aussagen als beweiskräftiger an, als es in New York der Fall ist, sagte Gloria Allred, eine Anwältin der drei Frauen im kalifornischen Prozess, der New York Times. Mit dabei im Weinstein-Team für die kommende Anfechtung: Jennifer Bonjean, die Anwältin, die auch Bill Cosby erfolgreich aus dem Gefängnis verhalf.